Kunstwissen

Ein Caspar David Friedrich für Greifswald

Hamburger Mäzene schenken eine bedeutende Zeichnung des Romantikers ans Pommersche Landesmuseum. Am 5. September – an diesem Tag wurde der Künstler 1774 in Greifswald geboren – war die feierliche Übergabe

Von Simon Elson
04.09.2017

„Jedes Bild ist mehr oder weniger eine Charakterstudie dessen, der es gemalt, so wie überhaupt in allem Tun und Lassen eines jeden sich der innere geistige und moralische Mensch ausspricht.“ Das notiert 1830 der gebürtige Greifswalder Caspar David Friedrich, ein mittelloser und fast vergessener Maler von 56 Jahren, bei der Begehung einer Gemäldesammlung. Mit strengem, teils erbitterten Blick durchleuchtet er die Malerkollegen: Für ihn genügen sie nur dem Zeitgeschmack, italianisieren und verkitschen die wahre Natur, hören auf ihren Pinsel, nicht auf ihr Herz. Friedrich hingegen verschließt sich dem südlich-italienischen Stil seiner Zeit. Er bleibt im Norden, führt das Leben eines menschenscheuen Einsiedlers, trägt unter dem zum Malerkittel umfunktionierten Reisemantel im Atelier oft nur nackte Haut, bewegt sich ungern in Gesellschaft. Nach Italien wird er nie fahren. Zudem kommuniziert der wortkarge kosakenbärtige Künstler zumeist nur durch Bilder, von seinem kargen Schrifttum ist wenig überliefert. Doch hin und wieder findet man einen Ausspruch wie den eingangs zitierten, der direkt zu seinem Werk führt – besonders zu den Bildern seiner Geburtsstadt.

Über die Gesetze der Optik hinaus

In schier unendliche Ferne gerückt, dabei messerscharf und detailliert: So hat Friedrichs Graphitstift Greifswald in einer Meisterzeichnung festgehalten. Doch kann man etwas, dass so fern ist, derart klar sehen? Ganz deutlich geht es Friedrich hier nicht darum, die Gesetze der Optik zu befolgen, er hat eine größere Aufgabe, nämlich die Verbildlichung seiner Heimat. Dafür braucht er zwar Zeichentechnik und Sehschärfe, vor allem aber auch Visionen, den Blick nach innen. Als er die Zeichnung um 1806 anfertigt, ist sein Greifswald bereits in die Ferne gerückt, seit 1798 wohnt er in Dresden, dessen Weltläufigkeit für ihn als Künstler überlebenswichtig gewesen sein muss. Zwar besucht er die Heimat ab und an, macht Rügen-Reisen, doch leben wird er nicht mehr dort, obschon ihn die Weite von Schwedisch-Pommern, wie das heutige Mecklenburg-Vorpommern damals heißt, für immer prägt.

Der norddeutsche Horizont

Noch bevor er 1807 seine ersten Bilder in Öl malt, so den berühmten „Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge)“, vertieft er sich zeichnerisch in die flache Landschaft, in den Möglichkeitsraum des norddeutschen Horizonts. In seiner Greifswald-Zeichnung lässt er den Blick um gut 180 Grad wandern und fügt das Gesehene dann ins Bild. Die Zeichnung ist wohl, das legt nicht zuletzt die Quadrierung nahe, eine Vorlage für die 1820/22 entstandenen „Wiesen bei Greifswald“ in der Hamburger Kunsthalle – der große zeitliche Abstand zwischen Zeichnung und Gemälde von gut 16 Jahren ist bei Friedrich nicht unüblich. Dennoch muss man die Meisterzeichnung vor allem als eigenständiges Kunstwerk ansehen, in dem er bereits eine horizontale Kompositionstechnik entwickelt, die den schier grenzenlosen Raum seines epochalen „Mönch am Meer“ (1808/10) vorwegnimmt.

Um 1810 wird er sogar für kurze Zeit populär mit dieser neuartigen Raumauffassung, die auch in dem Greifswalder Beispiel nicht nur vom Außen, sondern auch von innerem Anspruch getragen wird. Er komprimiert die weite Stadtsilhouette ins Bild, dies die erste Abweichung von der Dingwelt. Sodann kopiert er die Kirchtürme scheinbar minutiös, doch hat er den oberen Teil des barocken Doms St. Nicolai (von rechts aus gesehen an zweiter Stelle) – eigentlich ein rundlich zwiebelartiger Turm – extrem verschlankt und verlängert. Doch warum? „Die Veränderung des Kirchturms entspricht Friedrichs Suche nach einer deutschen nordischen Kunst“, erklärt die Romantikexpertin Birte Frenssen, die die Zeichnung im Pommerschen Landesmuseums aufarbeitet. „Der barocke Turm wird von Friedrich zu einer Art gotischen, in den Himmel weisenden Finger umgedeutet.“ In diese Zeit deutsch-französischer Feindschaften fällt ja auch der Streit darum, ob die Gotik eine deutsche oder ein französische Erfindung sei.

Susanne und Michael Liebelts Entscheidung für Greifswald

Die vorerst dringlichere Frage aber ist: Wie kommt Friedrichs Zeichnung, die sich bislang in einer Hamburger Privatsammlung befand, nach Greifswald? Experten wie der Münchner Kunsthändler Marcus Marschall schätzen ihren Wert auf 500.000 bis 700.000 Euro, aber für die Besitzer Susanne und Michael Liebelt kam ein Verkauf nicht in Frage. Stattdessen schenken sie das Blatt dem Pommerschen Landesmuseum. Am 5. September, Friedrichs Geburtstag, wird das Werk übergeben. Bis 12. Oktober ist es ausgestellt, danach wandert es wieder in die schützende Dunkelheit der Grafikschränke.

Die Liebelts wollen die Zeichnung nicht nur zurück in die Heimat geben, aus der auch die Vorfahren Susanne Liebelts stammen, die das Blatt wohl im 19. Jahrhundert in Greifswald erworben haben. Ganz explizit schenken die Sammler ihre Zeichnung in den eher selten bedachten Osten Deutschlands. Bereits kurz nach dem Mauerfall sind sie 1990, um den Aussichtspunkt Friedrichs zu finden, über die Greifswalder Wiesen gestapft und dabei auf einer Schutthalde gelandet. Von dort haben sie die klar erkennbare Stadtsilhouette fotografiert. Dabei erkunden sie Bildwelten des 19. Jahrhunderts eher selten, tauchen vornehmlich im zeitgenössischen Kunstbetrieb auf, unter anderem 2009 mit der Ermöglichung einer bahnbrechenden Sigmar-Polke-Ausstellung oder jüngst mit einer bedeutenden Schenkung von Hanne-Darboven-Werken an die Berliner Museen. Zudem hat Liebelt, nach seiner kaufmännischen Karriere spätberufener aber begeisterter Student am Hamburger Kunstgeschichtlichen Seminar, dort 2016 eine Juniorprofessur gestiftet. Und man sammelt eben auch Kunst aus dem ehemaligen Osten, so A.R. Penck oder Hermann Glöckner. Ein Foto von sich wollen die hanseatisch zurückhaltenden Sammler aber nicht hergeben. „Nein“, kichert Michael Liebelt am Telefon, im Urlaub weilend, „nehmen Sie doch lieber unsere Greifswald-Fotografie von 1990! Das Foto eines Hamburger Ehepaares in Ihrem Magazin, das wäre doch Humbug!“

Die Donatoren wollen die Zeichnung nicht nur an ihren Ursprungsort zurückführen, woher auch Susanne Liebelts Vorfahren stammen, die das Blatt wohl im 19. Jahrhundert in Greifswald erwarben. Bewusst schenkt das Ehepaar das kostbare Blatt in den eher selten bedachten Osten Deutschlands. Bereits kurz nach dem Mauerfall sind sie, um den Aussichtspunkt Friedrichs zu finden, über die Greifswalder Wiesen gestapft. Dabei erkunden sie sonst eher selten die Bildwelten des 19. Jahrhunderts, sondern engagieren sich vornehmlich im zeitgenössischen Kunstbetrieb, unter anderem 2009 mit der Ermöglichung einer Sigmar-Polke-Ausstellung oder jüngst mit einer bedeutenden Schenkung von Hanne-Darboven-Werken an die Berliner Nationalgalerie. Zudem hat Liebelt, nach seiner kaufmännischen Karriere spätberufener, aber begeisterter Student am Hamburger Kunstgeschichtlichen Seminar, dort 2016 eine Juniorprofessur gestiftet.

Romantik-Kompetenz

Als die Liebelts nach der Wende überlegten, wohin sie ihre Zeichnung geben könnten, existierte in Greifswald noch kein Kunstmuseum. Das hat sich 2000 mit der Eröffnung der Gemäldegalerie und 2005 mit der Fertigstellung des gesamten Landesmuseums geändert. Jetzt ist überdies der allerbeste Zeitpunkt, ein Werk Friedrichs dorthin zu stiften, denn mit Birte Frenssen, der Kustodin am Museum, und Kilian Heck, Kunstgeschichtsprofessor an der Greifswalder Universität, multiplizieren zwei Spezialisten nordischer Romantik ihre Kompetenz in einem Forschungsprojekt. „Wir untersuchen, wie nach 1800 und auch mit Friedrich eine spezifisch nordische Bildsprache entsteht“, erklärt Heck. „In dieser Zeit wird der Norden mit seinen Landschaften und Menschen als Thema der Kunst regelrecht neu erfunden. Die Maler wollen der als dominant empfundenen südlichen Bilderwelt etwas entgegensetzen. Die Dänen heben beispielsweise das Hünengrab besonders hervor oder malen nordische Steilküsten, um das Spezifische ihrer Landschaft hervorzubringen.“

Heck, Frenssen und ihre Mitarbeiter widmen sich auch der Schenkung des Berliner Mäzens Christoph Müller: Er hat dem Landesmuseum im letzten Jahr rund 380 dänische Werke des 19. Jahrhunderts anvertraut, um den musealen Osten zu stärken. Außerdem wollte er sie in den weiteren nordischen Kontext ihrer Herkunft stellen, hat doch selbst der reiseunlustige Friedrich in seinem Leben einen Sprung gemacht – und zwar nach Kopenhagen, um dort an einer der besten Akademie Europas zu studieren.

Heinrich von Kleist hat über Friedrichs „Mönch am Meer“ gesagt, es wirke so uferlos „als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären“. Nähert man sich der Greifswald-Zeichnung, muss man hingegen die Augen zukneifen, um alles zu erfassen. Die Häuschen, die winzig wolkigen Bäume verführen zum Schwelgen in der eigenen inneren Heimat. Doch reicht Innerlichkeit nicht hin, um die Welt oder die Kunst zu verstehen – Friedrich wusste das genau.

Weit und breit kein Windkraftrad

Auf der Zeichnung wird die Wirklichkeit durch das grasende Pferd symbolisiert, vor allem jedoch durch die exakt wiedergegebene Turm-Reihung, die uns wissen lässt, dass Friedrich in die Natur gewandert ist, sich Greifswald angeschaut hat. Wo aber hat er gestanden? Kann man diese Perspektive heute noch einnehmen? Oder hat man womöglich eines der in „Meckpomm“ so gehassliebten Windkrafträder vor der Nase? Zum Glück nicht. Kilian Heck verweist auf den Caspar-David-Friedrich-Bildweg, 15 Stationen, die quer durch Greifswald und Umgebung führen, unter anderem zu Friedrichs Geburtshaus, der Seifen- und Kerzenwerkstatt seines Vaters und natürlich zu dem Punkt, von dem aus die Greifswald-Ansicht komponiert ist.

Bricht man am Greifswalder Bahnhof auf, geht es an vorstädtischen Hundeparadies-Werbungen vorbei; am Netto-Discounter biegt man Richtung Friedhof ab, rechts schimmelt eine abgewrackte Halle vor sich hin. Aber lieber sollte man das Seufzen sein lassen und nach links schauen: Nervt hüben auch postindustrielle Ödnis, so weht von dort ein Geruch nach Heu und Pferden herüber. Die sumpfigen Wiesen, auf denen man schlecht bauen kann, sind immer noch frei, wenn auch viel bewachsener als auf Friedrichs Ansicht. Nimmt man den Aussichtspunkt am trockenerdigen Friedhof ein, klug gewählt auf einem der wenigen sanften Hügel rund um Greifswald, wird sofort deutlich, wie sehr die Zeichnung konstruiert ist. Friedrich könnte noch etwas weiter hinten gestanden haben, direkt auf dem Friedhof – doch kann man gar nicht so weit zurückgehen, dass sich eine zeichnungsähnliche panoramatische Sicht ergibt. Entweder muss man, wie gesagt, den Kopf bewegen, oder den Abstand so vergrößern, dass man die Stadt gar nicht mehr erkennt.

Geschicklichkeit und Empfindung

Mit manischem Missionarseifer betont Friedrich immer wieder, dass in der Kunst Geschicklichkeit ohne Empfindung nicht viel wert sei – und umgekehrt. Das Detail muss stimmig in der gefühlvollen Gesamtkonzeption sitzen. In seiner Wut gegen Kunst, die dieses Gleichgewicht nicht hält, wird der ernste Friedrich teilweise nicht nur hitzig, sondern echt witzig: „X wollte einen Felsen im Meere darstellen, und es ist ein Stein im Wasser daraus geworden“, schreibt er über einen Zeitgenossen. Friedrich selbst ist da geschickter, er drängt das gesamte Greifswald ins Bild und wirft es gleichzeitig in die Ferne, verbindet so strenge Veduten-Mechanik traditioneller Stadtansichten mit Heimatsehnsucht.

„Lieblingsmaler der Deutschen“

Der Entertainer Harald Schmidt, zu seinen besten Zeiten um die Jahrtausendwende, hat in seiner Late-Night-Show einmal ein Bild von Caspar David Friedrich hochgehalten und gesagt: „Das ist der Lieblingsmaler der Deutschen.“ Stimmt, aber das ist nicht immer so gewesen. Erst 1906, ziemlich genau 100 Jahre, nachdem er Greifswald gezeichnet hat, wird der 1840 in Armut und Bitterkeit verstorbene Maler mit der Berliner Jahrhundertausstellung deutscher Kunst wiederentdeckt und als das moderne Genie erkannt, als das er heute gilt. Dabei wird nicht nur Friedrich, sondern ganz allgemein die nordische Kunst aufgewertet, die seit der Entstehung der kunsthistorischen Disziplin immer hinter dem Süden – sprich: der italienischen Renaissance – zurückgeblieben war. Da der Nationalsozialismus die wiederentdeckte Nordkunst ungerechterweise in die arische Blut-und-Boden-Ecke zerrt, dauert es noch einmal bis in die 1970er, bis Friedrich dank Werkverzeichnis und großen Ausstellungen endlich im kunsthistorischen Olymp ankommt. Nun ist seine nationale Integrationskraft gleich so groß, dass er die Mauer überbrücken kann und den Anlass für die allererste deutsch-deutsche Kunsthistorikertagung bietet. Sie findet 1974, fast kann man es sich denken, in Friedrichs Geburtsstadt Greifswald statt – nicht in seiner Wahlheimat Dresden.

Zukunft der „Kuh Wiese“

Wer eine Tour in den Norden plant und neben der Friedrich-Zeichnung und den Dänen in Greifswald vielleicht auch Hamburgs, Schwerins oder Lübecks Romantikbestände anschauen will, sollte sich übrigens etwas sputen. Zwar ist gerade ein wenig Ruhe um das neue Kulturgutschutzgesetz eingekehrt, dennoch scheint nicht ganz sicher, welche Werke in Zukunft noch öffentlich besichtig werden können. So ist im vergangenen Jahr das Altonaer Museum in Hamburg ganz still und leise um Johann Friedrich Overbecks dorthin verliehenes Gemälde „Verstoßung der Hagar“ ärmer geworden, weil die Besitzer es möglichen Konsequenzen aus dem Gesetz entziehen wollten. Nachdem in Deutschland offenbar kein Interesse für den Ankauf dieses Bildes geweckt werden konnte, ist es in London bei Christie’s für knapp 600 000 Pfund versteigert worden.

Umso besser, dass Friedrichs „Kuh Wiese“ (wie ein kleiner Schriftzug unten rechts auf dem Blatt lautet) nun dauerhaft in Greifswald bleibt. Zumal die Stadt immer mehr zum Zentrum der Romantik wird, nicht zuletzt dank einer vom Bund finanzierten „Galerie der Romantik“: Verstärkt durch Ankäufe seit der Wiedervereinigung, besitzt das Museum sechs Gemälde Friedrichs, Dutzende von Zeichnungen und Aquarellen, zudem Werke der Friedrich Weggefährten Runge, Carus, Dahl sowie anderer Maler der Zeit. Friedrich Zeichnung ist hier also bestens – und bedingungslos – aufgehoben. „Naja, eine Bedingung gibt es schon“, betont Michael Liebelt:“Die Hamburger Kunsthalle hat das Blatt lange aufbewahrt. Es ist auf ewig vereinbart, dass sie die Zeichnung immer ausleihen darf.“ Damit kann Greifswald gut leben.

Ausstellung

"Friedrich in den Wiesen…"

Pommersches Landesmuseum, Greifswald, 5. September bis 12. Oktober 2017

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