Ausstellungen

Botticelli in neuem Licht

Die spektakuläre Restaurierung von Botticellis „Beweinung Christi“ in München wirft Licht auf eines der bedeutendsten Werke der Florentiner Renaissance der Alten Pinakothek

Von Andreas Schumacher
04.10.2017

Im Auftrag Napoleons inventarisierte der Florentiner Michele Mazzoni die Kunstschätze der im Jahr 1808 aufgelösten Klöster seines Stadtviertels. Er handelte dabei mit wachem Blick und äußerst geschäftstüchtig. Eine stark verschmutzte, aber vielversprechende Tafel, die er über dem Kamin der Apotheke des Kanonikerstifts San Paolino entdeckte, nahm er nicht in seine Listen auf. Offenbar erkannte er den Wert des Gemäldes und nannte es für einen lächerlichen Preis sein eigen, weil die Kanoniker dem Verkauf notgedrungen zustimmten.

Versteck im Pferdestall

Anschließend versteckte Mazzoni die Beweinung Christi, die Sandro Botticelli um 1490/95 für den Hochaltar von San Paolino geschaffen hatte, für ein Jahr in seinem Pferdestall. Mit Luigi Scotti beauftragte er dann glücklicherweise einen besonders namhaften Restaurator, der die auch vom Holzwurm angegriffene Malerei reinigen, kitten und retuschieren sollte. Nachdem er sich von Kennern Botticellis Autorschaft hatte bestätigen lassen, ließen Kaufinteressenten nicht lange auf sich warten. Angebote der Großherzogin von Toskana und der Florentiner Akademie schlug Mazzoni jedoch aus. Ein stiller Verkauf ins Ausland war ihm angesichts seiner Unterschlagung sehr viel lieber. So machte der in Florenz tätige Agent des bayerischen Kronprinzen das Rennen: Am 21. September 1814 ging Botticellis Altarbild in den Besitz des späteren Ludwig I. von Bayern über und wurde zu einem Fixpunkt der frühen italienischen Malerei in der Alten Pinakothek.

Vergilbte Firnisschichten

Bis vor gut einem Jahr zeigte sich die Beweinung Christi jedoch keineswegs mehr so, wie einst von Botticelli beabsichtigt. Eine umfassende gemäldetechnologische Untersuchung und Reinigungsproben gaben zu erkennen, dass die bewegende Darstellung nicht nur durch einige später aufgetragene, vergilbte Firnisschichten, sondern vor allem auch durch den konservatorischen Eingriff des 19. Jahrhunderts verfremdet worden war. Als er 1812 ans Werk ging, bemühte sich der Restaurator Scotti offensichtlich darum, dem Gemälde wieder eine geschlossene Gesamtwirkung zu verleihen. Dabei folgte er wohl klassizistisch geprägten Vorstellungen der Renaissancemalerei und nivellierte so stilistische Eigenheiten von Botticellis Kunst. Zur Kaschierung fehlender oder verputzter Farbschichten überzog er die Darstellung mit dünnen Lasuren und Übermalungen, so dass die scharf umrissene, sehr flächig organisierte Figurenkomposition schließlich stärker modelliert und ihr kraftvolle Farbigkeit gedämpft erschien.

Jetzt wieder nah am ursprünglichen Erscheinungsbild

Bei der kürzlich im Doerner Institut abgeschlossenen, von der Rudolf August Oetker Stiftung finanzierten Restaurierung konnten alte Retuschen, Übermalungen und Firnisschichten entfernt werden. Die sehr differenziert aus vielen dünnen Farbschichten aufgebaute Malerei überraschte selbst in problematischen Bereichen, wie etwa dem schwarzen Mantel der Maria, mit einem relativ guten Erhaltungszustand. So ist das Gemälde trotz aller Alterungsprozesse heute seinem ursprünglichen Erscheinungsbild wieder sehr nah. Erstmals seit Jahrhunderten hat der Betrachter wieder die Möglichkeit, das kühl und kontrastreich leuchtende, partiell dissonante Kolorit ungetrübt zu erleben. Darüber hinaus offenbarte die aktuelle Restaurierung und maltechnische Analyse, wie versiert Botticelli und seine Werkstatt Tempera- und Ölmalerei nebeneinander zum Einsatz brachten und wie qualitativ einheitlich ihre Ausführung ist. Alle Vorbehalte der älteren Forschung gegenüber einer Zuschreibung an den Meister sind allein dadurch entkräftet. Insbesondere die in der Infrarotreflektographie sichtbare Unterzeichnung lässt keinen Zweifel daran, dass Botticelli die Darstellung intensiv zeichnerisch vorbereitete und seinen Entwurf noch während der malerischen Ausführung mehrfach korrigierte.

Ein Inventar aus dem Jahr 1518

Während der Erarbeitung des Bestandskatalogs der Florentiner Malerei in der Alten Pinakothek, der soeben im Deutschen Kunstverlag erschienen ist, fand sich ein 1518 erstelltes Inventar, das die Herkunft von Botticellis Münchner Tafel aus der Chorkapelle der Kirche des Kanonikerstifts von San Paolino bestätigt. Mit der Bestellung der Beweinung vollendeten die Testamentsvollstrecker des Frosino di Cristofano Masini dessen Hochaltarstiftung. Bis zu seinem Tod im Jahr 1451 hatte Masini das Amt des Priors von San Paolino bekleidet und wurde vor dem Hochaltar bestattet – eine prominente Grablege, die Macht und Ansehen und selbstverständlich den Wunsch dokumentierte, mit der Stiftung des Altars und den dort zu zelebrierenden Messen das eigene Seelenheil zu befördern. In unmittelbarer Nachbarschaft des Kanonikerstifts befand sich in der Via Nuova Botticellis Werkstatt. Der aktuelle Prior, der berühmte Humanist und Medici-Vertraute Angelo Poliziano, war sein Vermieter und dürfte wesentlichen Anteil an der Konzeption des bedeutsamen Altarbilds gehabt haben – zumal er auch als der geistige Vater von Botticellis „Primavera“ und „Geburt der Venus“ in Frage kommt.

Botticellis emotionale Intensität

Das im genannten Inventar als vielfigurige Pietà beschriebene Gemälde zeigt die apokryphe Szene der Beweinung. Mit emotionaler Intensität führt Botticelli in der ersten Bildebene die Trauer um den Gottessohn als dramatisch bewegte historia vor. Im Schoß seiner Mutter, die von den drei klagenden Marien und Johannes umgeben ist, liegt der fahle und spannungslose, aber kaum geschundene Leib Christi. Die Ohnmacht der Maria – scheinbar ausgelöst durch den Anblick der von der Klagefrau im grünen Mantel präsentierten blutigen Nägel – signalisiert ihre compassio, ihre Rolle als Miterlöserin, und ist das zentrale dramatische Moment. Denn Johannes, der durch seinen leuchtend rot-orangen Mantel hervorgehoben ist, tritt entschlossen an die Gottesmutter heran, stützt sie ehrfürchtig und greift mit lang gestrecktem Arm in das Leichentuch, um das plötzlich drohende Abrutschen des leblosen Körpers zu verhindern. Indem Maria zusammensackt und ihr Kopf zur Seite fällt, entsteht eine markante Leerstelle in der Bildachse: Unter dem bedrohlich locker gefügten Schlussstein der portalartigen Rahmung der Grabeshöhle geht der Blick Betrachters in das dunkle Nichts – Sinnbild für den Moment der größten Finsternis in der unterbrochenen Heilsgeschichte.

Stille Zeugen

Drei dem Passionsgeschehen nicht zugehörige Heilige flankieren die zentrale Szene in einer zweiten Ebene: Mit Ruhe und in würdevoller Distanz wohnen sie ihr wie einem geistlichen Schauspiel bei – Hieronymus und Paulus kontemplativ, Petrus ungerührt ernst und mit beglaubigendem Segensgestus. Als stille Zeugen entzeitlichen sie die Bilderzählung und kennzeichnen die Darstellung als imago, als Kultbild, das der Verehrung des Allerheiligsten gewidmet ist. Offensichtlich war die Tafel dafür bestimmt, am Sakramentsaltar eine Präsentation des strahlenden Corpus Domini zu zeigen, die den Opfertod, dessen liturgischen Nachvollzug und das Erlösungsversprechen ergreifend in Beziehung setzt. Wie entscheidend der fein kalkulierte ikonische Charakter der Beweinung für den Maler und seinen Auftraggeber war, belegt die in der Unterzeichnung wesentlich korrigierte Positionierung der drei Heiligen.

Eine Frage des Stils

Die Münchner Altartafel ist eine exemplarische Schöpfung aus den Anfängen von Botticellis Spätwerk. Von der Forschung wurde sie deshalb lange als prominentes Zeugnis der vermeintlichen Affinität des Künstlers zu dem Bußprediger Girolamo Savonarola missverstanden – zumal einzelne seiner Werke zweifellos die um 1500 in Florenz verbreitete Endzeitstimmung thematisieren. So ist noch immer zu betonen, dass die karge, expressive und manchmal schroffe Darstellungsweise des Meisters nicht das Ergebnis eines ideologisch motivierten Stilwandels ist. Der archaisierende, teils artifizielle Charakter der späten Schöpfungen wurzelt in konstanten Stilmerkmalen seiner das Regelwerk der neuzeitlichen Malerei vielfach ignorierenden Kunst. Eindrucksvoll zeigt die Beweinung, wie sensibel Botticelli die zunehmende Spiritualisierung seiner Bildsprache stets zugunsten der vom Auftraggeber intendierten Funktion seiner Werke zum Einsatz brachte.

Neuerscheinung

Bestandskatalog

 

Florentiner Malerei – Alte Pinakothek

Die Gemälde des 14. bis 16. Jahrhunderts

Herausgegeben von Andreas Schumacher mit Annette Kranz und Annette Hojer

München, Deutscher Kunstverlag, 2017

744 Seiten mit über 1000 meist farbigen Abbildungen

ISBN: 978-3-422-07413-2; 78,- EUR

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