Kunstwissen

Das Skizzenbuch – Glücksfall der Kunstgeschichte

Sechs Fragen an Gerd Presler, den Kunsthistoriker und großen Grafik-Kenner, zu seinem jüngsten Buch – und zum schöpferischen Prozess

Von Lisa Zeitz
03.08.2018

Woher kommt Ihre Passion für das Skizzenbuch?

Als ich die Skizzenbücher von Ernst Ludwig Kirchner erstmals zu Gesicht bekam, – sie blieben bis 1992 in Privatbesitz – war mit Händen zu greifen, dass sich auf diesen unscheinbaren Seiten ein ganz eigenes Geschehen vollzog, bisher verborgen, fast unbekannt. Wenig Literatur, und was vorlag, versammelte Allgemeinplätze, Vermutungen. Nicht herangezogen war, was die Künstlerinnen und Künstler selbst zum Skizzenbuch sagten: Was es ihnen bedeutete, warum sie diesen kleinen, unscheinbaren Begleiter in der Jackentasche mit sich trugen, ihn nicht entbehren konnten. Solche Fragen zu stellen, war dann der Einstieg in ein faszinierendes, aber auch aufreibendes Forschungsgebiet. Schon bald zeigte sich: Was sich an diesem Ort ereignet, ereignet sich sonst nirgendwo, nicht in Zeichnung und Aquarell, nicht im Gemälde und auch nicht in der Druckgraphik. Das Skizzenbuch: Ein eigenes Geschehen ohne Parallele im sonstigen Werk. Nach Kirchner bin ich dem bei weiteren Künstlerinnen und Künstlern nachgegangen. Am Ende standen erstaunliche und vor allem unerwartete Ergebnisse. Deutlich wurde auch: Die Skizzenbuchforschung macht gerade ihre ersten Schritte. Ein breites Feld, auf dem sich Schätze heben lassen. Werkverzeichnisse sind nötig. Die „Staatliche Graphische Sammlung München (SGSM)“ bemüht sich um diesen Arbeitsbereich. An mancher Universität entstehen Doktorarbeiten. Promovenden haben sich an mich gewandt. Deshalb weiß ich davon.

Was passiert in einem Skizzenbuch?

Was bisher unbeachtet blieb: Für die Künstlerin, den Künstler ist die erste Begegnung mit einem faszinierenden Sujet, einem Motiv, der alles entscheidende Augenblick. Hier entzündet sich etwas mit der Forderung, sofort niedergeschrieben zu werden. In der ersten Begegnung – nur hier – brodelt die Hitze des Anfangs, die Glut des Unausweichlichen, die „Ekstase des ersten Sehens“. Das durchfährt die Künstlerin/den Künstler. Und dann kann es nicht anders sein: Die Hand greift in die Jackentasche, zieht Skizzenbuch und Bleistift heraus. Kirchner sprach von der „feinsten ersten Empfindung“, die ihn auf der Straße, im Café, Theater überfiel und zwang, sie „in Quartheften mit Wachstuchdeckel“ niederzuschreiben. Anderen, darunter Ludwig Meidner, Asger Jorn, Joan Mitchell, Paul Thek, erging es ebenso. Das Skizzenbuch steht: „Am Anfang“. Ein einzigartiger, qualifizierter Moment in der Fülle der Zeit. Ihn zu fassen, zu bannen, ist dem Skizzenbuch vorbehalten. Der Künstler weiß: Wenn ich jetzt nicht zugreife, ist alles verloren. Was in diesem Augenblick geschieht, wiederholt sich nicht.

Wie hat sich die Bedeutung des Skizzenbuches im Laufe der Zeit verändert?

Buchstäblich mit dem Stigma des „Vor-Läufigen“ besetzt, geistert das Skizzenbuch durch die Jahrhunderte. Manche sagen, es vermerke nur eine kleine „Notiz“. Das Eigentliche, die Vollendung geschehe anderswo. Das ist bis heute die weit verbreitete Meinung. Man stützt sich dabei nicht nur auf eine Bemerkung von Michelangelo. Er soll seine Blätter „nach Gebrauch“ verbrannt haben. Sie hätten „ausgedient“. Auch Leonardo sei so vorgegangen. Und noch Giorgio Morandi habe das Skizzenbuch als Vor-Läufer betrachtet: „Das Werk ist fertig. Die Skizzenbuchblätter brauche ich nicht mehr.“ Dahinter steckt die Vorstellung: Die Werke der bildenden Kunst ordnen sich im Bild einer Pyramide. Auf breiter Basis steigen sie in Entwicklungsstufen auf und erreichen die Spitze im Gemälde. Eine sehr einseitige Sicht! Künstlerinnen und Künstler haben das zumeist anders empfunden. Für sie war die erste Begegnung mit dem, was sie aus der Fülle des Sehens und Erlebens ansprang, wert, mit rascher Hand und wachen Sinnen niedergeschrieben zu werden. Schöpferische Menschen wissen: Es gibt im fließenden Strom der Zeit Momente, die wiederholen sich nicht. Wer hier zugreift, reißt aus dem Überfluss des Möglichen das Einzigartige heraus. Ernst Barlach schrieb: „Ich, dem beim Gang über die Straßen der Bleistift in der Hand vor Ungeduld zu tanzen begann.“ Deshalb meine Anregung: Man mache sich endlich die Mühe, die Pyramide der Kunstbewertung umzudrehen! Der schöpferische Höhepunkt ereignet sich nicht am Ende und im Gemälde. Er steht am Anfang und vollzieht sich im Skizzenbuch.

Wie gingen Künstlerinnen und Künstler der Moderne mit ihren Skizzenbüchern um?

Sorgsam. Sehr sorgsam. Den norwegischen Maler Edvard Munch begleiteten sie, wenn er wieder einmal von einem seiner Ateliers am Oslofjord in ein anderes zog. Sie begleiteten ihn – in Koffern. Er konnte sie nicht entbehren, musste sie um sich haben. Nicht, um im Gemälde abzukupfern, was das Skizzenbuchblatt vorgab. Anders: Der größere Raum des Gemäldes führte zu neuen kompositorischen Entscheidungen. Die langsamere Herstellung und das Hinzutreten einer Regie aus der Farbe veränderten den schöpferischen Duktus. Gleichwohl: 159 Skizzenbücher mit nahezu viertausend Blättern, das war seine eingebrachte Ernte an dieser Stelle. So auch bei Max Beckmann, der sich in seinen Gemälden ebenfalls weit von den Skizzenbucheintragungen entfernte. Allerdings: Im Skizzenbuch entschied sich, was er auf die Leinwand überführen würde. Er umgab Skizzenbuchzeichnungen mit einer Umfassungslinie und schrieb an den Rand: „Muss gemalt werden 18.3.33.“ Niemandem zeigte er sie. Nicht seiner Frau Quappi, nicht seinen engsten Freunden. Sie lagerten in einer „Unnahbarkeitszone“. Kostbar auch das, was sich in Kirchners Skizzenbüchern abspielte. Einhunderteinundachtzig sind es mit mehr als zwölftausend gezeichneten und beschriebenen Blättern. Ein unausgeschöpfter Fundus. Für ihn galt: „Ich lernte den ersten Wurf schätzen, sodass die ersten Skizzen für mich den größten Wert hatten.“ Damit nahmen seine Skizzenbücher einen unerreichbaren Platz ein. Größter Wert! Mehr geht nicht. Und näher an der Gegenwart: Paul Thek. Im Skizzenbuch zeichnete er sorgsam, genau. Hier vergewisserte er sich einer Welt, die er in seinem chaotischen von Krankheit und Sucht überlagerten Leben nicht fand. Hier schrieb er religiöse Texte nieder, zwang sich zu einer Schönschrift, die er aus der Schule kannte. Warum? Er suchte Halt, suchte in selbst auferlegter Strenge eine verlorene Ordnung. Das Skizzenbuch wurde für ihn zum therapeutischen Schutzraum mit, wie Thek hoffte, kathartischer, reinigender Wirkung. Ein Extrem. Sicher, aber es zeigt, was Künstler im Skizzenbuch suchten, erhofften und vielleicht auch fanden.

Welcher der bekannten Künstlerinnen und Künstler zeichnete am schnellsten?

Es ist schon überraschend, was das Skizzenbuch ermöglicht. Es geht so weit, dass sich das Geschehen vor den Augen des Künstlers und die Gestaltung dieses Geschehens durch seine Hand synchronisierten und in annähernder Gleichzeitigkeit vollzogen. Ein Beispiel: Kirchner warf, als er an den Moritzburger Teichen den lebhaften, ständig wechselnden Bewegungen von „Fränzi“ folgte, in wenigen Augenblicken zweiunddreißig Skizzen aufs Papier. Schaffen in gedehnter Jetztzeit. Wer die Blätter heute sieht, merkt: Hier geschieht mehr als Augenblick. Hier ereignet sich Dauer. Wo aber ist so etwas sonst fassbar? Nirgends, nur im Skizzenbuch. Auch Walter Stöhrer näherte sich dieser Möglichkeit. Und vielleicht ging er noch einen Schritt weiter als Kirchner. Stöhrer löste sich vom Gesehenen, erspürte die Form, die ihr innewohnende Energie – und warf beides auf das Blatt. Er konnte diese in seinen „Kladden“ erzielte Geschwindigkeit, diese hohe Energiedichte sogar in seine Gemälde übertragen. Das gelang, wie gesagt, Kirchner nicht. Er hat den Verlust beklagt: „Was habe ich mich geschunden, das zu vollenden auf der Leinwand, was mir in der Skizze wie selbstverständlich gelang.“

Was hat Sie bei Ihren Recherchen am meisten überrascht?

Überrascht war ich, als ich bemerkte, warum Künstlerinnen und Künstler Skizzenbücher führen. Die unerwartete Lösung: Weil sie im Skizzenbuch frei sind. Jene Arbeiten, die das Atelier verlassen – Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, druckgraphische Werke, – um ausgestellt und verkauft zu werden, besitzen im Schaffensprozess eine andere Bedeutung als jene kleinen Blätter, die an niemanden adressiert sind, nur an den Künstler selbst. Damit besitzt das Skizzenbuch einen eigenen Rang, eine heftige Exklusivität. Hier – nur hier – ist der Künstler unberührt von Gesetzen, die andere schrieben. Hier lässt er alle Forderungen, die der Markt und der Kompromiss formulieren, hinter sich. Im Skizzenbuch muss er nicht auf Wünsche eingehen, muss nicht Rücksicht nehmen auf Erfahrungen mit dem Publikum, den Sammlern, Galeristen und Kuratoren. Im Skizzenbuch ist er allein – souverän. Ein paradiesisch unschuldiger Zustand ohne Anpassung an die Normen der Welt. Als ich bemerkte, dass Künstlerinnen und Künstler um dieser Einsamkeiten willen das Skizzenbuch aufsuchten und liebten, stieg meine Achtung. Tatsächlich: Es ist auffällig, dass Skizzenbücher und einzelne Blätter aus ihnen von den Künstlern nur selten in den Handel gegeben wurden. Zu privat. Zu kostbar. Es gibt Dinge, die verkauft man nicht. Asger Jorn tat es trotzdem – aus Not. Es war seine kleinste Münze im Kampf ums Überleben. Aber sonst blieben die Blätter beieinander: Bei Munch, Barlach und Beckmann, Baumeister und Meidner, Grosz und Rainer, Dubuffet, Hockney, Thek und Sigmar Polke. Und auch bei Ernst Ludwig Kirchner verließen nur wenige Blätter das Atelier. Als Geschenk an Freunde, als Abbildungsvorlagen für den Buchdruck. Erst Erna Kirchner verkaufte Skizzenbuchblätter. Musste sie verkaufen. Wovon hätte sie sonst leben sollen?

Service

Publikation

Gerd Presler, Das Skizzenbuch – Glücksfall der Kunstgeschichte, 2017, GD Publishing, 138 Seiten

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