Stühle sind ein beliebtes Experimentierfeld der Designer. Unter der großen Vielfalt an Formen und Materialien ist so manches Sitzmöbel zum Klassiker und gefragten Sammelobjekt geworden
Von
26.08.2019
Das Sitzen auf Stühlen war über Jahrhunderte ein Privileg der Herrschenden, des Adels und des Klerus. Das Volk hockte bei öffentlichen Anlässen am Boden, musste stehen oder durfte sich bestenfalls auf Bänken oder Hockern niederlassen. Die meisten Sitzmöbel waren aus Holz, seltener aus Stein oder Metall. Während die Japaner bis heute weitgehend ohne Stühle auskommen, gibt es in unseren Breiten unterschiedlichste Sitzmöbel für jeden Zweck.
Mit Michael Thonets neuer Bugholztechnik begann Anfang der 1840er-Jahre in Boppard am Rhein eine revolutionäre Ära für Sitzmöbel. Nun konnten sie in gebogener Form, leicht, zierlich, dabei fest, dauerhaft und preiswert in großer Zahl produziert werden. Thonets „Wiener Kaffeehaus-Stuhl Nr. 14″ avancierte zum Klassiker. Dank des geringen Material- und Montageaufwands aus sechs Holzeinzelteilen, zehn Schrauben und zwei Muttern ist er schnell zusammengebaut und wird seit 1859 bis heute auf der ganzen Welt millionenfach verkauft.
Schon um 1900 und vermehrt nach dem Ersten Weltkrieg waren Architekten und Kunsthandwerker in ganz Europa bestrebt, den Historismus zu überwinden und neue Wege zu beschreiten. Um 1906 entwarf der Wiener Architekt Otto Wagner einen Armsessel für den Sitzungssaal der Österreichischen Postsparkasse, der in seiner zweckbestimmten Form mit Beschlägen und Manschetten aus Aluminium zu einem frühen Klassiker des Möbeldesigns aufstieg. Exzentrischere Stühle mit hoher Lehne schuf Charles Rennie Mackintosh in Glasgow.
1918 machte Gerrit Rietveld, Mitbegründer der De-Stijl-Bewegung, mit seinem „Rot-Blau“-Stuhl in Anlehnung an Piet Mondrian Furore, einer Konstruktion aus Vierkanthölzern und Sperrholzplatten. Begierig begannen Stuhlbauer, mit neuen Werkstoffen zu experimentieren. 1925 entwarf Marcel Breuer, damals Leiter der Bauhaus-Tischlerei, seinen „Wassily“-Clubsessel mit Eisengarn-Bespannung für Kandinskys Dessauer Haus. Auch der erste Kufenstuhl, der wie ein transparentes Linienspiel aus endlosem vernickelten Stahlrohr geformt ist und 1926 als klappbare Variante entstand, geht auf Breuer zurück. Nächster Renner war der Freischwinger. Zwar sprach ein Gericht seine künstlerische Urheberschaft Mart Stam zu, der in Heimarbeit den Prototyp aus Gasrohren und Muffen gefertigt hatte. Aber berühmt wurde er durch den hinterbeinlosen, vernickelten Stahlrohr-Freischwinger „MR 20″ (und „MR 10″ ohne Armlehnen) des Architekten und Reformers Mies van der Rohe. Zu den bis heute gefertigten Klassikern zählt sein eleganter Barcelona-Sessel „MR 90″ für den Deutschen Pavillon der Weltausstellung in Barcelona 1929 aus verchromtem Flechtstahl mit losen Lederpolstern. Das Bauhaus machte die Stahlrohrstühle populär, die wiederum von Le Corbusier in Paris in verschiedensten Varianten und bis in die 1950er etwa von Jean Prouvé in Nancy konstruiert wurden.
Das waldreiche Skandinavien favorisierte auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin Holz und propagierte einen sachlich-funktionalen Wohnstil. Allerdings hat Arne Jacobsen für seinen leichten „Ameisen“-Stuhl 1952 Buchenschichtholz mit einem lackierten Stahlrohrgestell kombiniert. 1958 verschwand der Kunststoffschalensitz mit Schaumgummipolsterung bei seinem „Ei“ unter einem Leder- oder Stoffüberzug über einem Aluminiumfußkreuz. Damit war ein weiteres Novum in der Stuhlentwicklung erreicht: Aus einem Stück geformte, ergonomische Sitzschalen – ob aus Sperrholz, mit Kunststoff beschichtetem Aluminiumblech oder aus glasfaserverstärktem Polyester auf Stahldrahtgestell montiert.
1951 ging der Wire Chair von Charles und Ray Eames mit einer geschweiften Sitzschale aus gitterförmigem Drahtstahlgeflecht mit losen Sitzkissen in Serie, ein Vorläufer des Kunststoffstuhls. Charles Eames war wie Eero Saarinen Absolvent der 1932 gegründeten US-amerikanischen Cranbrook Academy, die dem „Organic Design in Home Furnishings“ frönte. Bis heute besticht Saarinens 1956 entworfener „Tulpen“-Stuhl mit Polyesterharzschale auf einem schlanken, lackierten Trompeten-Metallfuß, den Knoll International vermarktet hat. Im Gegensatz zu diesem eleganten Design erscheint beispielsweise „Lady“, mit seinem vollkommen von weichem Schaumgummi umhüllten metallenen Kern ein Inbegriff der 1950er, eher plump.
Pures Plastikdesign aus einem Guss, stapel- und reihenbar, verkörpern Joe Colombos „Kartell-Stuhl Nr. 4867″ oder Helmut Bätzners Unikat „Bofinger-Stuhl BA 1171″ aus den 1960er-Jahren. Wie eine Welle erscheint hingegen der 1959 im Spritzgussverfahren hergestellte Freischwinger „Panton Chair“ des Dänen Verner Panton.
Um 1970 kombinierte Piretti Stahlrohr und transparentes Plexiglas bei seinem ebenso funktionellen wie zeitlosen Klappstuhl „Plia“, der bei Castelli in Bologna in Produktion ging. Mit der Ölkrise 1972/73 ebbte die Euphorie für Plastikmöbel ab. Stuhlklassiker sind längst veritable Sammelobjekte. Das hat sich wieder bei einer Artcurial-Auktion im Winter 2018 gezeigt: 250 000 Euro war der Ausreißerpreis für den „Grashüpfer“-Sessel von Finn Juhl aus Ahorn mit schwarzem Leder. Ein Prototyp, der 1938 zweimal in Kopenhagen hergestellt wurde, aber damals nicht in Serie ging.