Im Berliner Salon Frieder Burda geht Annette Kelm auf Spurensuche: nach der von den Nazis verfemten Avantgarde-Literatur und der Kunst ihrer Buchumschläge
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12.06.2020
Für gewöhnlich konstruiert sich Annette Kelm ihre eigene Wirklichkeit. Die Künstlerin fotografiert seit den späten Neunzigerjahren, gern Alltägliches wie Zimmerpflanzen, Geldscheine oder Sneaker. Vieldeutig werden die Ensembles dank Kelms eigenwilliger Kombination der Bildelemente: „Sale“-Schilder reflektieren auf einmal die Gesetze des Kunstmarktes, Schuhe werden zum Sinnbild globaler Massenproduktion.
Die neue fotografische Serie im Berliner Salon Frieder Burda setzt einen anderen Akzent. Die Ausstellung der ausnahmslos kleinen Formate trägt den Titel „Die Bücher“ – und zeigt tatsächlich historische Umschläge diverser Klassiker von Alfred Döblin, Kurt Tucholsky oder der Dichterin Else Lasker-Schüler. Diesmal montiert Kelm also nichts, jedenfalls nicht innerhalb ihrer Motive. Bedeutung schafft das gesamte Arrangement. Die Bücher, um die es hier geht, wurden wie Tausende andere Titel im Mai 1933 auf dem damaligen Opernplatz, dem heutigen Bebelplatz verbrannt. Mitten in Berlin an einem Ort der Kultur und gleich gegenüber der Universität. Den Scheiterhaufen errichteten vom Nationalsozialismus berauschte Studenten, die sich damit um das literarische Erbe ihrer Zeit brachten. Vor allem aber ging es ihnen um die Auslöschung politischer Querdenker, zu denen zahllose Intellektuelle jüdischer Herkunft gehörten.
Annette Kelm, Jahrgang 1975, geht mit „Die Bücher“ auf Spurensuche. Eine Bibliothek der damals verfemten Literatur gibt es nicht, die erhaltenen Exemplare hat sie selbst ausfindig gemacht. Dass es sich hier um dreidimensionale Objekte handelt, blenden ihre Fotos aus: Die Abbildungen wirken flach. Bloß die Textelemente auf den Umschlägen erinnern daran, dass sich unter dem Buchdeckel das ganze Universum von „Berlin Alexanderplatz“ oder Erich Kästners Gedichtsammlung vom „Verhexten Telefon“ verbirgt. Zurück bleiben die teils aufwändig von Künstlern der Zwanziger- und Dreißigerjahre gestalteten Motive, mit denen die Verlage ihre Bücher versahen. Als Werbemittel, aber auch als Signal. Form und Inhalt korrespondierten miteinander, beides kam von der damaligen Avantgarde.
Kelms Fokus auf die Umschläge richtet den Blick auf ihre teils unbekannten und teils ebenfalls verfolgten Illustratoren. Mit der öffentlichen Verbrennung der Literatur vernichteten die Nazis zugleich auch Werke der bildenden Kunst, die ihnen ebenso verhasst waren. So dezidiert kritisch hat Annette Kelm bislang noch nie Position bezogen. Die Präsentation im Salon Frieder Burda, in einer Etage der ehemaligen jüdischen Mädchenschule von Berlin-Mitte, verstärkt den Eindruck, den man aus dieser Ausstellung mitnimmt: wie dringend solche Statements von Künstlerinnen und Künstlern gerade sind.