Netsuke

Große Schnitzkunst auf kleinem Raum

Die japanischen Netsuke zeigen mit viel Witz die merkwürdigen und berührenden Seiten der Geister, der Menschen und der Natur. Es ist ein Sammelgebiet auch für bescheidene Geldbeutel

Von Peter Dittmar
28.12.2020
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 175

Haiku und Netsuke: Sie sind Japan en miniature und dabei gegensätzliche Geschwister. Die Dreizeiler des Haikus fassen melancholisch, oft schwermütig das Dahinschwinden, die Vergänglichkeit in Worte. „Unsere Welt ist / flüchtig wie Tau – mag sein… / Und dennoch, dennoch…“ dichtete Kobayashi Issa (1763–1828), einer der „Großen Vier“ der Haiku-Kunst. Die Netsuke indes neigen dazu, die Seltsamkeiten, das Komische des Alltags wie der Götter und Geister handlich zu bündeln. Handlich in doppeltem Sinne: schmeichelnd in der Hand und am Obi (dem Gürtel des Kimono), bündig in ihrer Erzählung, jenen entscheidenden Moment erfassend, der das Zuvor und Danach in sich birgt – ohne dabei das Praktische aus den Augen zu verlieren. Die Blüte der Netsuke währte gut zwei Jahrhunderte lang. Erst als die Nützlichkeit nicht mehr nötig war, stellte sich die Frage, ob dieses Schnitzwerk ein Überbleibsel fortschrittstrunken überwundener Zeiten oder eine kaum gewürdigte asiatische Kunst sei.

Zuerst aber kommt China ins Spiel, womöglich begannen auch die mongolischen Reiter damit. Denn um all die kleinen Dinge zur Hand zu haben, die man unterwegs brauchte – das Siegel, einen Münzbeutel, etwas Tabak oder ein anderes Kraut, das beflügelt, vielleicht auch Schreibzeug – steckte man sie, weil die Kleider keine Taschen kannten, in den Gürtel. Oder man hängte sie daran. Die Schnur war gegen das Durchrutschen mit einem Stück Wurzelholz oder Bambus, manchmal auch einem kleinen Flaschenkürbis gesichert. Darauf deutet der Name hin, der sich aus ne (Wurzel) und tsuke (anhängen) zusammensetzt. Und wie so oft, wenn die Japaner von den Chinesen (oder Koreanern) Nützlichkeiten übernahmen, wurden aus diesen Fundstücken bald Kunststücke. Kleine, meist nur drei bis sechs Zentimeter hohe, dabei höchst erfindungsreiche und vielfältige Schnitzkunstwerke.

Als Ahnherr der Netsuke-Schnitzer gilt der Maler Yoshimura Shuzan (1700–1773) aus Osaka. Auf ihn geht die saishiki-Technik ­zurück: Figuren aus dem weichen Hinoki (Zypressenholz), die farbig getönt wurden. Nur Dauerhaftigkeit war ihnen, täglich getragen, nicht vergönnt. Und weil Shuzan seine Arbeiten nicht signierte, bleibt es bei Zuschreibungen und Vermutungen, was von seiner Hand sein könnte.

Zwar sind einzelne seiner Stücke im „Soken kisho“ von 1781, einem Buch über Schwertzierrat, das im letzten der sieben Bände auch 52 Netsukishi (Netsuke-Schnitzer) vorstellt, als Holzschnitt abgebildet. Aber zugleich wird erwähnt, dass Shuzan damals bereits kopiert wurde. Fünf Nachschöpfer unterscheidet man inzwischen, wobei offen bleibt, ob deren Shuzan-Signatur Respekt oder Geschäftssinn bezeugt. Immerhin hat so manches Netsuke, das als „Shuzan“ gehandelt wird – wenngleich meist als „Schüler“ oder „in der Art von“ –, trotz seiner Empfindlichkeit die Zeiten überdauert.

Vielfalt der Materialien

Die nachfolgenden Generationen nutzten Materialien, die dem täglichen Gebrauch besser widerstanden. Das waren vor allem Buchsbaumholz, obwohl es dem Schnitzer mehr Widerstand entgegensetzte, und Elfenbein, ein allerdings recht teurer Rohstoff, der aus Indien und Siam importiert und vorwiegend in Osaka, Kyoto und Edo verarbeitet wurde. Mammutzahn bürgerte sich als Substitut erst nach der Ratifikation der Cites-Regeln zum Artenschutz ein. Daneben, wenngleich in wesentlich geringerem Umfang, wurden Netsuke aus Bambus, Walbein, Walrosszähnen, den Hauern von Ebern, Hirschgeweihen, Rhinozeroshorn, Korallen und Perlmutt geschnitzt, manchmal auch aus Metall oder Glas gegossen, aus Papiermaschee mit Lacküberzug geformt oder aus Porzellan gebrannt. Selbst Bernstein oder Flechtwerk, die Kralle eines Adlers oder der Schnabel des Nashornvogels sind da zu finden.

Die Vielfalt der Materialien entspricht der Bandbreite der Themen. Sie reichen von Pflanzen und Tieren – fabelhafte Wesen und die zwölf Tiere des japanischen Zodiakus eingeschlossen – bis zu den Geistern und Dämonen, den Sennin und den Helden volkstümlicher Erzählungen. Dabei ist neben dem Offensichtlichen meist noch eine zweite symbolische Ebene mitzudenken, etwa bei der Fledermaus, die chinesisch fu heißt und mit fu für Glück homonym ist. Als Anregung erzählerischer Netsuke dienten viel gelesene chinesische Romane wie „Die Geschichte der drei Reiche“ und „Die Räuber vom Liang-Shan-Moor“, das vertraute Nō- und Kabuki-Theater oder populäre Geistergeschichten.

So begegnet man immer wieder dem Geist der Oiwa, die dem mörderischen Ehemann als schreckliches Gesicht in einem Lampion erscheint, so wie sie Hokusai in seinem Farbholzschnitt abgebildet hat. Oder der Ama, die sich liebevoll mit einem Oktopus vergnügt. Denn erotische Anspielungen sind den Netsuke nicht fremd. Seien es die übergroße Nase eines Tengu, ein kräftiger Pilz, an denen sich die lebenslustige Okame anschmiegend erfreut, oder Nuss- oder Muschelschalen, in denen, wenn man sie aufklappt, ein Liebespaar verborgen ist.

Vor allem fällt auf, dass die Figuren meist heiter in die Welt schauen, dass gern das Amüsante und Groteske einer Situation ironisch gespiegelt wird. Das kann der Rattenfänger sein, dem die Viecher entwischen, ein Shoki, der sich von Dämonen triezen lässt, anstatt sie zu vertreiben, oder ein „Ausländer“, ein „Insulaner“, Chinese oder besonders häufig ein Holländer mit seiner für Japaner seltsamen Kleidung und Attitüde.

Flachsmann Netsuke Ratte
Flachsmann bietet ein besonders schön gearbeitetes Nagetier aus Buchsbaumholz derzeit für 6500 Euro an, signiert von Masanao, frühes 19. Jahrhundert, Preis auf Anfrage. © Galerie Flachsmann

Das „goldene Zeitalter“ der Netsuke war das Jahrhundert zwischen 1750 und 1850. Und wie man es aus Kunstgewerben andernorts kennt, konzentrierten sich gefragte Schnitzer auf bestimmte Genre. Tomotada war berühmt für seine Ochsen, Horaku für seine Fledermäuse, Masanao für seine Hunde, ihm wird auch die Erfindung, des aufgeplusterten Glücksspatzes, des fukura suzume, zugeschrieben. Die Kunden waren Kaufleute, die, weil ihnen als der vierten und untersten Klasse in der gesellschaftlichen Hierarchie Schmuck nicht erlaubt war, mit sichtlich teuren Netsuke ihren Wohlstand zur Schau stellten. Zierliche Einlegearbeiten, Kombinationen unterschiedlichsten Materials – etwa fossiles dunkles Holz mit roter Koralle oder eben ein Hase mit Bernsteinaugen – signalisierten, was man sich leisten konnte.

Und auch Stil und Themen erweiterten sich. Da die Netsuke nun oft nicht mehr alltagstauglich sein mussten, brauchten sie nicht mehr kompakt zu sein und konnten filigraner, zierlicher, künstlerischer werden. Seit 1774 „The New Anatomy“ von Johann Adam Kulmus mit Abbildungen von Skeletten in Japan übersetzt und gedruckt worden war, hielten die zerbrechlichen Knochenmänner in der Netsuke-Schnitzerei Einzug. Die Skelette, von Sessai signiert, die 2013 bei Christie’s und 2018 bei Lempertz 23.800 Pfund und 13.000 Euro brutto erzielten, belegen das.

Der Export senkte das Niveau

In Japan hat man die Netsuke lange nicht sonderlich ernst genommen. Sie galten als hübsche Beiläufigkeit, aber des Sammelns waren sie eigentlich nicht wert. Wenn jemand mehrere Stücke besaß, hing das mit dem Brauch zusammen, dass man im Jahr des Hundes keinen Hahn, der das Jahr zuvor regiert hatte, am Gürtel tragen wollte. Und selbstverständlich auch keinen Eber, der für das kommende Jahr stand. Und im Herbst, wenn in der Obon-Zeit der Toten gedacht wurde, waren Zikade, Ahorn, auch Chrysantheme angemessen, nicht aber Kirschblüte oder Päonie, die zum Frühling gehören.

Für einen westlichen Sammler sind das kaum Kriterien. Netsuke wurden zuerst den Kuriositäten zugerechnet, die man aus exotischer Ferne mitbrachte. Isaac Titsingh, Jurist und Arzt, der im Auftrag der Niederländischen Ostindien-Kompanie mehrmals der Niederlassung auf Deshima vor Nagasaki vorstand, soll um 1780 als Erster Netsuke nach Amsterdam gebracht haben. Und auch der bayerische Arzt und Naturforscher Philipp Franz von Siebold kehrte nach 1830 aus Japan mit einer kleinen Sammlung zurück. Mit der Öffnung des Landes 1853 und Japans Präsenz bei den Weltausstellungen 1867 in Paris und 1873 in Wien entstand jedoch die eigenartige Situation, dass in Japan mit der Verwestlichung der Kleidung der Kimono verdrängt und das Ende der Netsuke gekommen schien, hätten nicht Sammler in Europa und Amerika den Reiz der kleinen Kunstwerke entdeckt. Allerdings ließ das Niveau der Schnitzwerke, nun immer mehr für den Export gefertigt, erheblich nach.

Damals entstanden die ersten Sammlungen, die nicht dem Exotischen, sondern der Kunst Tribut zollten. So hielten es die Pariser Schriftstellerbrüder de Goncourt oder Carl Fabergé, Juwelier des Zaren, der ein halbes Tausend Netsuke besaß, von denen er sich bei seinen Tierfiguren inspirieren ließ. Und der Leipziger Verleger Albert Brockhaus trug 1780 Netsuke zusammen, die von seinen Nachfahren zuerst 1980 bei Christie’s, dann bei Klefisch in Köln und zuletzt im Juni bei Lempertz versteigert wurden.

Die nachfolgende Generation war einerseits von Sammlern und Händlern wie Frederick Meinertzhagen, William Winkworth und Mark Hindson geprägt, deren Sachkenntnis sich immer noch am Auktionsmarkt spiegelt, wenn Stücke, die sie einst besaßen, Höchstpreise erzielen. Daneben entstanden in der Zwischenkriegszeit einige Riesensammlungen wie die von Avery Brundage, dem langjährigen IOC-Präsidenten, der etwa 17.000 Netsuke besaß, von denen er 7700 dem Asian Art Museum in San Francisco stiftete. Oder die Kollektion von Walter Lionel Behrens, die 6400 Stücke umfasste. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden der amerikanische Rechtsanwalt Raymond Bushell, der vierzig Jahre in Japan lebte und knapp zweitausend Schnitzwerke zusammentrug, oder der Pianist Julius Katchen zu Instanzen in Sachen Netsuke.

Weltruhm für einen Hasen

Katchen hatte bei seinen Konzerttourneen stets einen Spezialkoffer für seine Netsuke bei sich. Und weil die Pariser Asiatika-Händler, die er regelmäßig abgraste, wenn er in der Stadt auftrat, durchblicken ließen, sie hielten seine Hinweise auf seine Pianistenkarriere für eine hübsche Fabel, lud er sie einmal allesamt zu einem Konzert ein. Ob sich das steigernd oder mindernd auf die Preise auswirkte, ist nicht überliefert. Sicher ist jedoch, dass er eigens Schuberts „Impromptus“, die nicht zu seinem Repertoire gehörten, einübte, weil ein Sammler das zur Bedingung gemacht hatte, wenn er seine Schätze sehen wolle. Und als Finale der Besichtigung und Bewunderung tauschte man dann drei Netsuke gegen fünf. Das war so ungewöhnlich nicht. Ein bekannter Sammler, gefragt, mit wie vielen Stücken eine Sammlung beginne, soll gesagt haben: „Mit drei. Zwei zum Behalten und eins zum Tauschen.“

Bushell übergab 650 Netsuke 1980 dem Los Angeles County Museum, während die anderen nach seinem Tod 1998 in mehreren Auktionen von Christie’s und Sotheby’s verkauft wurden. Katchens Stücke kamen in London 2005 zuerst bei Sotheby’s und dann 2016/17 bei Bonhams unter den Hammer – mit Zuschlägen, die nur knapp unter den Rekorden der Sammlung von Harriet Szechenyi 2011 zurückblieben. Und von den über die Nazizeit geretteten Netsuke der Familie Ephrussi – weltberühmt geworden durch Edmund de Waals Erinnerungsbuch „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ – übergab der Autor und Porzellankünstler, Nachfahre der Ephrussis, 157 Schnitzwerke dem Jüdischen Museum in Wien für zehn Jahre als Leih­gabe, während er 79 Stücke bei Matthew Barton in London zugunsten des UK Charity Refugee Council versteigern ließ.

Die Frage, was mit der Sammlung geschehen soll, wenn sich die Lebensjahre des passionierten Käufers dem Ende zuneigen, die Erben keinen Sinn für diese schöne ­Kleinigkeit haben, stellt sich immer wieder. Man kann es wie Edmond de Goncourt halten, der testamentarisch festlegte, sein Kunstbesitz sollte nicht in einem Museum begraben, sondern versteigert werden, damit auch andere die Freude genießen könnten, die er selbst beim Erwerb hatte. Aber man kann sich auch mit der Stiftung an ein Museum ein kleines Denkmal setzen, wie etwa Anna und Christian Trumpf, die dem Stuttgarter Linden-Museum 2000 japanische Objekte überließen, darunter 800 Netsuke. Oder wie Bruno Werdelmann, der dem Kunstpalast in Düsseldorf rund 1100 Netsuke schenkte.

Wie bei allen Sammelleidenschaften gibt es auch bei den Netsuke die Geschichten von der guten alten Zeit, in der man mit Glück oder Sachkenntnis ein besonderes Stück besonders günstig bekommen konnte. Albert Brockhaus ist dafür das Standardbeispiel. Denn sein erstes Netsuke, ein Frosch, kaufte er 1877 in einem Pariser Spielzeug­laden für fünf Franc. Aber selbst aus den 945 Pfund (damals 10.000 Mark), die Julius Katchen 1965 bei Boons Park in Kent für einen Welpen von Kaigyokusai Masatsugu zahlte, was damals als Wahnsinnspreis galt, wurden 2017 bei der Bonhams-Auktion der Sammlung dann 30.000 Pfund. Sind Netsuke also ein gutes Investment? Immerhin liegt der Höchstpreis seit 2011 für ein (unsigniertes) Shishi aus dem Kyoto des späten 18. Jahrhunderts bei 265.300 Pfund brutto. Die Nummer zwei, ein zerzauster Hund mit seinen Welpen von Gechu aus dem Nachlass der Katchens, brachte es 2016 auf 221.000 Pfund.

Netsuke Lempertz Pferd Brockhaus-Auktion
Das Toplos der Brockhaus-­Auktion bei Lempertz im Juni 2020: ein Pferd von Mitsuharu, Kyoto, Mitte 18. Jahrhundert, Endpreis 100.000 Euro brutto. © Lempertz

Der Weg in diese Höhen war allerdings lang. Als Anfang der Siebzigerjahre der Händler Ouchi in Tokio, so erzählt es die Kölner Auktionatorin und Japanspezialistin Trudel Klefisch, Raymond Bushell fragte, ob er bereit sei, für ein Netsuke 1000 Dollar zu zahlen, verließ der Sammler empört das Geschäft. Umgerechnet 50 bis 200 Mark waren damals üblich. Katchens Rekorderwerbung von 1965 wurde deshalb erst nach acht Jahren von Christie’s in London mit umgerechnet 70.000 Mark überboten. Ein Meilenstein in Europa waren die 130.000 Mark, die 1988 ein Kirin des späten 17. oder frühen 18. Jahrhunderts bei Klefisch schaffte.

Nach weiteren Rekorden in den Neunzigern stagnierte der Markt, ehe er 2011 und 2016/17 mit den Nachlässen von Harriet Szechenyi sowie Julius und Arlette Katchen zu neuen Höhenflügen mit inzwischen zehn sechsstelligen Pfundpreisen ansetzte. Unerwartete Ausreißer inbegriffen. So sprang 2017 bei Van Ham das Gespenst einer Frau, das aus Flammen emporsteigt, von taxierten 6000 auf 80.000 Euro; mit Aufgeld zahlte der Bieter 102.500 Euro.

Doch wachsen die Bäume auf dem Netsuke-Markt nicht in den Himmel. So wurden bei der Brockhaus-Auktion in diesem Juni bei Lempertz zwar alle Stücke verkauft, aber lediglich zehn trugen mehr als 10.000 Euro und ein einziges (mit Aufgeld) genau 100.000 Euro ein. Bei den fast anderthalbtausend Netsuke der Kolodotschko-Sammlung, die Lempertz 2014/15 in sechs Tranchen aufrief, kamen nur acht auf mehr als 10.000 Euro. Der höchste Preis lag mit 30.000 Euro brutto weit vor den anderen; der Durchschnitt musste sich mit niedrigen vierstelligen Zuschlägen begnügen, gut ein Viertel blieb sogar im dreistelligen Bereich. Auch bei Van Ham, bei Nagel und anderen Häusern, die Netsuke versteigern, lassen sich mit gutem Auge und etwas Kennerschaft schöne Entdeckungen zu sehr moderaten Preisen machen. Es ist ein Sammelgebiet, in das man auch mit bescheidenen Mitteln einsteigen und eine spannende Kollektion aufbauen kann.

Knackpunkte Elfenbein und Echtheit

Ein heikler Aspekt ist das Elfenbein. Das Washingtoner Artenschutzabkommen „Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora“ (Cites) wird immer strenger umgesetzt und betrifft zunehmend auch historische Kunstwerke aus Elefantenzahn. Noch ist der Transfer innerhalb der EU möglich, darüber hinaus wird es oft problematisch. In den USA etwa kann man die Stücke mittlerweile weder ein- noch ausführen. Wie sich der Brexit für das auf den Haupthandelsplatz London, wo viele Netsuke verkauft werden, auswirken wird, ist noch völlig offen.

Schwierig wird es auch bei der Frage „Echt oder falsch?“. Denn bei den Netsuke, wie generell bei der Kunst Ostasiens, gibt es viele Zwischenstufen vom Original über die Replik und die Kopie bis hin zur kriminellen Fälschung. Dem Werk des verehrten Meisters möglichst nahe zu kommen, es ihm gleichzutun, war der Ehrgeiz jedes Schülers. Deshalb war es ein Zeichen der Wertschätzung – und kein Versuch einer Täuschung –, wenn er sein Werk mit dem Namen des Lehrers versah. Zuweilen wurde ein Künstlername nicht nur dem Sohn vererbt, sondern auch mit der Adoption eines talentierten Schülers lebendig gehalten.

Die Signatur steht also häufig weniger für das Werk eines Einzelnen als für eine Familientradition und die Kontinuität der Motive und ihres Stils. „Man erzählte mir von einer Familie, die über drei Generationen Mäuse schnitzte, nichts anderes als Mäuse“, notierte Edmond de Goncourt verwundert. Das macht die Zuweisung an einen Künstler wie die Datierung so schwierig – und erleichtert Fälschern das Handwerk. Denn bislang gibt es kein technisches Verfahren mit dem sich das Alter von Elfenbein bestimmen lässt.

Signaturen, wie sie sich im 18. Jahrhundert einbürgerten, sind nur bedingt eine Echtheitsgarantie. Viele berühmte Schnitzer verzichteten darauf, weil sie überzeugt waren, der Kenner bedürfe solcher Krücken nicht. Shuzan, der vielen als einer der un­gewöhnlichsten Netsuke-Schnitzer gilt, hat nie signiert. Trotzdem werden immer wieder signierte Shuzan-Netsuke angeboten; es sind bemalte Figuren aus dem weichen Hinoki-Holz. Deshalb spotten Händler gern: „Wollen Sie ein signiertes Netsuke? Oder ein außergewöhnliches?“

Holz wird kaum gefälscht

Ein historischer Aspekt: Die Reform durch Kaiser Meiji mit der rigorosen Verwestlichung Japans verdrängte auch den Kimono und damit den Gebrauchswert der Netsuke. Den meisten Japanern galten sie – wie die Farbholzschnitte – als nutzlose Ges­trigkeit. Doch die Westler entdeckten und sammelten sie als Kunstwerke, deshalb wurden sie weiterhin, nun vor allem für das Ausland produziert. Oft als Dutzendware, aber durchaus auch mit Ambitionen. So lässt sich in vielen Fällen kaum entscheiden, ob die Anlehnungen an berühmte Beispiele als moderne Repliken oder als Fälschungen gedacht waren. Sogenannte Hongkong-Netsuke als Airport-Art gibt es allerorten: aus Elfenbein seriell geschnitzt oder aus Kunstharz gegossen und Elfenbein vortäuschend.

Anders ist es mit jenen Stücken, die erheblich mehr einbringen sollen, als sie wert sind. Das können unsignierte Netsuke sein, denen nachträglich eine Pseudo- oder Meistersignatur verpasst wird. Auch muss, was aus altem Elfenbein geschnitzt wurde, keine alte Schnitzerei sein. Zudem kann Elfenbein durch Wechselbäder mit heißem und kaltem Wasser oder mit Chemikalien künstlich gealtert und rissig werden. Da verraten dann vielleicht Staubpartikel, ob sie „historisch“ oder appliziert sind. Und anders als bei echter Patina, bei der sich durch das Tragen Vorder- und Rückseite in Nuancen unterscheiden, lassen sich mit einiger Übung originale und künstliche Alterung an der Verfärbung erkennen.

Das gilt auch für die Himotoshi, die Schnurlöcher auf der Rückseite, deren Ränder bei echten Stücken abgeschliffen und nicht scharfkantig sind. Das Argument, es handle sich um ein gut verwahrtes Sammlerstück, ist da wenig überzeugend, denn ungetragen gesammelt wurden Netsuke in Japan erst seit Ende des 19. Jahrhunderts.

Netsuke aus Holz zu fälschen ist zu diffizil und zu zeitaufwendig, um gewinnbringend zu sein. „Alle Fälschungen, die ich gesehen habe“, meint ein Fachmann, „waren aus Elfenbein und signiert. Ist es aus anderem Material und nicht signiert, steigt die Chance, dass es ein Original ist.“ Aber gegen Irrtümer ist niemand gefeit. Schon weil die Welt „flüchtig wie Tau“ ist.

Hier geht’s zum Service des Sammlerseminars über japanische Netsuke.

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