Die Ikonografie der Ikonen umfasst Heilige von den Anfängen des Christentums über die orthodoxen Spielarten bis zur Gegenwart. Marienbilder stellen auf dem Auktionsmarkt den Löwenanteil, melkitische Ikonen aus Syrien sorgten jüngst für Überraschungen
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24.04.2021
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 6
Dorthin „freiwillig zurückzukehren“, wo man „wie durch ein Wunder“ schon einmal einem gewaltsamen Tode entronnen ist, sei „wie in die Löwengrube zu gehen, um Zeugnis abzulegen“, schrieb Dirk Ippen in der OVB vom 23./24. Januar über die Rückkehr Alexej Nawalnys nach Russland. In seinem Artikel zitierte Ippen auch den regierungskritischen Hongkong-Chinesen Jimmy Lai mit den Worten: „Wenn sie mich nun ans Kreuz nageln, dann werde ich das tragen“. Der Titel dieser Kolumne mit unmissverständlichen Reminiszenzen an Glaubenszeugen vom Alten Testament bis zur Apostelgeschichte lautete: „Zwei Märtyrer unserer Zeit“.
Im Frühchristentum erschien es noch so mancher Glaubensgemeinde tunlich, ältere Mythen anzuverwandeln – so geschehen etwa beim Michaelskult: Der Erzengel, so die Legende, erschien auf der italienischen Halbinsel Gargano Hirten in einer Höhle, die dorthin einem entlaufenen Stier gefolgt waren. Der Stier war das Opfersymbol des römischen Mithraskults. Und gegen diesen beim „einfachen Volk“ überaus erfolgreichen Konkurrenzglauben ließen sich die frühen Christen so manches einfallen – bis hin zur Datierung von Christi Geburt auf den Tag des „Sol invictus“ (Wintersonnenwende), für den zuvor ebenfalls Mithras gestanden hatte. Der Michaelskult in der Höhle, der im 4. Jahrhundert vom dortigen Bischof gefördert wurde, ließ den Erzengel schließlich in Nachfolge des hellenistischen Hermes „Psychopompos“ zum Seelengeleiter und -beschützer und -wäger nach dem Tod werden.
Gleich ob Michael nun mit gezücktem Schwert Satan in die Schranken weist oder auf rot-feurigem Pferd als Heerführer in den apokalyptischen Kampf stürmt: Sein martialischer Auftritt kam letztes Jahr im Handel mit etwa 85 Prozent Absatzchancen gut an – weit besser als seine „friedlichen“ Kollegen. Bei Hargesheimer in Düsseldorf etwa erzielte im November 2020 ein im 19. Jahrhundert entstandenes Exemplar aus Bulgarien 3400 Euro.
Mit gut 50 Prozent zugeschlagener Einzelporträts liegt der Heilige Nikolaus – der populäre Helfer in allen Lebenslagen – mit der Gottesmutter noch gleichauf. Hinsichtlich der absoluten Zahlen ist ihm „die Allheilige“ jedoch um rund das Zehnfache überlegen. Freilich: Die vielen, vielen Marien-Typen wie auch die im Schnitt prätentiösere Ausstattung ihrer Ikonen spielen hierbei eine Rolle.
Dass im Dezember 2020 bei Koller in Zürich eine um 1700 entstandene „Verkündigung“ – bar ihrer ehemaligen silbergetriebenen Basmastreifen – für beträchtliche 8000 Franken zugeschlagen wurde, mag für die allmählich wieder ansteigenden Preise „älterer“ Hausikonen russischer Provenienz sprechen. Dargestellt ist der Augenblick der „Inkarnation“ des Gottessohnes. Maria kauert aber keineswegs als „Magd des Herrn“ vor dem heranstürmenden Gottesboten, wie man das von vielen anderen Ikonen kennt. Maria blickt gefasst auf den Engel, der sich ihr aus der Höhe nähert.
Drumherum wird es freilich turbulent: Das alttestamentliche Sinnbild der Gegenwart göttlichen Geistes – die Wolke – fällt gleichsam in einem Wirbel von Feuerwerkswölkchen über das Haus in Nazareth her. Dieses wiederum ist in der charakteristischen Architektur der Jaroslavler Malerei frei nach Art des italienischen Barockmanierismus angelegt, jedoch mit extremen, geradezu surrealen Tiefenzügen, die unwillkürlich Assoziationen zu den „Carceri“-Stichen des Venezianers Giovanni Battista Piranesi wecken. Geschaffen wurde die Ikone wohl von einem Mitglied der Malerdynastie Potapov.
Ein interessantes „Mischwesen“ zwischen einem Märtyrer und einem adaptierten Mythos ist der Heilige Georg. Jerusalem-Pilger des 6. und 8. Jahrhunderts wissen von der Existenz seiner Reliquien in Lydda-Diospolis, nahe dem heutigen Tel Aviv. Zusammen mit dem Ehrentitel eines „Großmärtyrers“ wuchs ihm aber erst im 11./12. Jahrhundert eine „standesgemäße“ Fülle erlittener Martern zu. Diese sind aber nur ganz gelegentlich in einem Passio-Kranz auf griechischen oder russischen Vitaikonen wiedergegeben – seine bekannte Bildgestalt ist ein Mensch gewordener Mythos: der Drachenkämpfer zu Pferd. Bezeichnenderweise tauchte er just in dem Moment auf, als Reitervölker aus dem zentralasiatischen Raum im 7. Jahrhundert gegen Europa vordrangen. Wurde der berittene Krieger in dieser Phase zum Inbegriff militärischer Kraft und ständischer Erhabenheit, so verbanden sich mit „Georg“ zudem vertraute Mythen des Kampfes gegen Ungeheuer, wonach der Heilige aus der Unterwelt aufsteigende Kräfte bändigen konnte.
Eine Ikone aus einer Privatsammlung (Berlin, Moskau), die im 16. Jahrhundert in Russland (Cholmogory) geschaffen wurde, zeigt – anders als etwa postbyzantinische Werke des 15./16. Jahrhunderts – keinen kraftvoll heranpreschenden Ritter, der dem fauchenden Untier mit aller Kraft die Lanze in den Rachen stößt. Die Bedrohung richtet sich hier vielmehr gegen die zum Menschenopfer für die Stadt erwählte Prinzessin. Und es genügt Georg offensichtlich ein leicht, aber sicher geführter, „ermahnender“ Stoß, um dem Untier alle Kraft zu rauben: Der Vollzug des göttlichen Willens, so versichert diese Ikone, fordert keine Anstrengung.
War der berittene Georg einerseits als religiöse Identifikationsfigur der Oberschicht von Nutzen, so galt er andererseits – allein aufgrund seines Namens (griech. georgos = Bauer) – als Bauernpatron. Ein Patchwork-Heiliger also zur Stärkung der jeweiligen Standesehre und zugleich eine soziale Klammer, wie sie in feudalen Verhältnissen nur dienlich sein konnte.
Und so ist der Heilige auch im Kunsthandel schier „unbesiegbar“. Eine Georgs-Ikone müsste schon reichlich unansehnlich geworden oder bestürzend überhöht angesetzt sein, sollte sie keinen Abnehmer finden.
Die Verehrung genuin christlicher Heiliger fand ab dem 4. Jahrhundert in den Überbauten von Begräbnisstätten angesehener Bischöfe sichtbaren Ausdruck. Eine solche „Memoria“ hatte man auch für Nikolaus von Myra aus Lykien / Kleinasien errichtet, der sich später im gesamten orthodoxen Kulturraum höchster Beliebtheit erfreute – insbesondere in Russland. Eine ganz eigene Varietät stellt die Kombination von geistlichem Lehrer und entschlossenem Kämpfer dar, wie sie auf Nikolaus-Ikonen unter dem Beinamen „von Moshaisk“ zu sehen ist. An der wichtigen westlichen Einfallstraße nach Moskau gelegen, wurde Moshaisk seit dem 14. Jahrhundert immer wieder von polnischer Seite angegriffen – deshalb erlangten dort Ikonen als Abbilder einer lange zuvor schon zur Abschreckung am Stadttor angebrachten Skulptur des heiligen Beschützers beträchtliche Popularität.
Auf einer partiell überarbeiteten Arbeit aus dem 18. Jahrhundert, die bei Dr. Fischer in Heilbronn im Dezember 800 Euro erzielte, tritt der heilige Hierarch mit erhobenem Schwert den Angreifern entgegen. Seine Streitbarkeit hatte Nikolaus der Legende nach bereits im ersten ökumenischen Konzil von Nicaea (325) gegen den „Ketzer“ Arius bewiesen, dem er im „heiligen Zorn“ eine Ohrfeige verpasst haben soll. Zwar entzog ihm die kaiserliche Obrigkeit danach die Amtsbefugnis, doch Christus und die Gottesmutter erteilten sie ihm postwendend wieder – wie auf der Ikone zu sehen. Den Bischöfen waren schon vor der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion örtliche Befugnisse – etwa die Ernährungssicherung – übertragen worden. Einen solchen Fürsprecher konnten Volk und Land wahrlich zu jeder Zeit gebrauchen.
Heilige auf Ikonen aus der ehemals oströmischen Provinz Syrien (die auch Teile der heutigen Staaten Türkei, Jordanien und Libanon umgriff) sind derzeit offenbar auf neue Art hilfreich: Die dort seit Jahren andauernden Kriegsereignisse haben arrivierte Teile der Gesellschaft nämlich bereits zur Auswanderung nach Israel, Europa, Kanada, die USA etc. bewogen. Gemeint sind „melkitische“ Christen, von denen wiederum ein Teil mit der römisch-katholischen Kirche liiert ist, während der andere der (griechisch-)orthodoxen Glaubensrichtung verbunden blieb.
Im November 2020 kamen bei Hargesheimer in Düsseldorf mehrere Ikonen melkitischer Herkunft (als solche erkennbar vor allem an den arabischen Beischriften) zur Versteigerung: durchweg sehr erfolgreich. Es liegt nahe, einen oder mehrere Emigranten als Käufer zu vermuten, zumal die Stücke stets weit mehr als gleichwertige Stücke von griechischer Hand erbrachten. Eine melkitische Ikone des Wüstenasketen Antonius beispielsweise spielte mit 17.000 Euro mehr als das Dreifache des durchaus mutigen Aufrufpreises ein.
Der noch im 3. Jahrhundert in Mittelägypten geborene Antonius, einer der ersten „heilig“ angesehenen Asketen, war als Sohn wohlhabender Landbesitzer bald angewidert von den Ausschweifungen der Vermögenden und strebte – dem Armutsgebot Christi folgend – in einer verlassenen Grabanlage jenseits des Nil, dem Wohlleben zu entsagen.
Immer schon lösten Schwächen von Großmächten Begehrlichkeiten bei den Nachbarn aus, die unzufriedene Ethnien auf dem Territorium des wankenden Rivalen zum Widerstand gegen die „Fremdherrschaft“ anzustacheln versuchten. Dazu war es immer schon dienlich, religiöse – heutzutage auch „weltanschauliche“ – Divergenzen zu befeuern. Besonders hilfreich bei „terroristischen Aktionen“ oder gar regionalen Umstürzen waren Männer, die sich mit Waffen auskannten und im Dienst der missliebig gewordenen „Zwingherren“ standen. Etwa junge Griechen, die sich den Türken als „Janitscharen“ – vergleichbar den Fremdenlegionären späterer Zeiten – andienten, um der Armut zu entgehen.
Die Kleidung des „Neomärtyrers“ Georg (von Joannina) zeigt in der selbstverständlichen Kombination der hellenischen „Fustanda“ mit dem türkischen Fez, wie weit nach Jahrhunderten osmanischer Herrschaft die kulturelle Assimilation der Griechischstämmigen fortgeschritten war. Gegen die Verheiratung des (vermeintlich?) sunnitisch-islamischen Janitscharen Hasan (alias Georgios) mit einem Christenmädchen hatte zunächst niemand etwas einzuwenden gehabt. Als Hasan/Georgios dann aber 1838 das gemeinsame Kind zur Taufe brachte und darauf bestand, zu keiner Zeit Muslim gewesen zu sein, wurde er von der osmanischen Obrigkeit zum Tod durch den Strang verurteilt und hingerichtet. Noch im selben Jahr wurde er auf ein Heilungswunder hin – der Legende nach bewirkt durch Auflegung einer der Leiche noch am Galgen abgezogenen Socke – vom Synod des ökumenischen Patriarchats als (Neo-)Märtyrer heiliggesprochen.
Ein kleines makedonisches Täfelchen mit Georg Joannina, um 1840 entstanden, brachte bei Galerie Moenius, Berlin, im Oktober 2020 immerhin 1700 Euro. Vom vorliegenden Ausnahmefall einmal abgesehen, fanden in den letzten Jahren Ikonen von Neomärtyrern im Handel aber oft nicht das ihnen angemessene Interesse.
Auch zur Etablierung und Absicherung von Herrschaft war ein religiöser Überbau hilfreich. Etwas überspitzt ausgedrückt, war es zur Mitte des 13. Jahrhunderts Alexander Nevskij, der als glorreicher Bewahrer der Orthodoxie zum „Drachentöter der Rus“ wurde. Sein „elastischer“ Umgang mit den tatarischen Tributherren im Osten ermöglichte es ihm, als gewählter Anführer in Kriegszeiten für die Republik Novgorod 1240 die schwedischen Invasoren an der Mündung der Newa (daher sein Beiname) zu besiegen. Ein Jahr darauf brachte er den Rittern des Deutschen Ordens und den livländischen Schwertbrüdern auf dem Eis des Peipussees eine vernichtende Niederlage bei und konnte dann mit drei erfolgreichen Schlachten zudem das Vordringen der Litauer auf Territorien der Rus fürs Erste aufhalten. 1252 wurde er Großfürst von Vladimir(-Suzdal).
Eine bei Hargesheimer in Düsseldorf im April 2020 aufgerufene Ikone aus Russland, um 1900 geschaffen, zeigt den heldenhaften Kämpfer für die Orthodoxie. Dass das Bild von 150 auf 1000 Euro kletterte, ist bezeichnend für einen weiteren, nun schon eine Reihe von Jahren anhaltenden Trend im Handel: Alles was datiert und signiert einer bestimmten Werkstatt und Region zugeordnet werden kann, ist generell schon mal mehr wert.
Phasen eines sich wandelnden Glaubens, so scheint es, sind häufig verquickt mit gesellschaftlichen Umbrüchen. Und gerade dann keimt immer wieder die Überzeugung auf: Neue Heilige – ob Helden oder Leiderdulder – braucht das Land!