Japanische Landschaften

Hiroshiges Sehnsuchtsorte

Buchtipp: Eine edle Leporello-Ausgabe im Prestel Verlag versammelt Utagawa Hiroshiges Darstellungen berühmter japanischer Landschaften

Von Roberta De Righi
07.07.2021
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 10

Zwei Männer am Fluss kämpfen gegen Wind und strömenden Regen – dessen Struktur aus gebogenen Linien die Bildfläche wie ein Muster überzieht. Ein dritter Mann im Hintergrund steht gebeugt auf einer schmalen Insel. Wäre das Bild ein Foto, würde man es einen gelungenen Schnappschuss nennen. Doch die Szene aus dem „Tal der Einsiedler“ ist ein Farbholzschnitt von Utagawa Hiroshige (1797 – 1858), der hier nicht nur eine von Japans „berühmten Landschaften“ am Yoshii-Fluss festhält, sondern auch zeigen will, wie sehr diese Gegend vom rauen Klima geprägt ist. Hiroshiges Serie „Famous Places in the Sixty-odd Provinces“ ist nun eine edle Ausgabe gewidmet, herausgegeben von der französischen Kunstpublizistin Anne Sefrioui, und zwar nicht als Buch, sondern als mit dunkelblauer Seide bezogenes Leporello. 70 Abbildungen, mit Kurztexten auf Englisch, sind nach japanischer Leserichtung von links nach rechts zu blättern.

Was seinen Ruhm betrifft, so war Hiroshige eher ein Spätzünder, gilt aber längst als Meister der Landschaftsdarstellung in der späten Edo-Zeit. Nicht zuletzt van Gogh nahm seine Grafiken als direkte Vorlagen für Gemälde. Im Westen ist er vorwiegend durch seine Farbholzschnitte bekannt, war jedoch ebenso wie der etwas ältere Hokusai auch als Maler tätig. Aufschlussreich ist ein Vergleich der Ansicht aus dem „Tal der Einsiedler“ mit dessen „Plötzlichem Windstoß“ von 1831: Während Hokusai seine Folge aus den „36 Ansichten des Fuji“ eher als Slapstick-Moment begreift, der ihm eine virtuose Figurendarstellung ermöglicht, betont Hiroshige das Naturereignis und lässt die Witterung zum beherrschenden Ornament werden.

Hiroshige zerlegte seine Motive in grafische Strukturen sowie in ein fast ornamentales Gefüge von Flächen – hier zu sehen am Beispiel seines Farbholzschnitts „Gezeitenstrudel von Naruto in der Awa Provinz“. © Prestel, München
Hiroshige zerlegte seine Motive in grafische Strukturen sowie in ein fast ornamentales Gefüge von Flächen – hier zu sehen am Beispiel seines Farbholzschnitts „Gezeitenstrudel von Naruto in der Awa Provinz“. © Prestel, München

Sie hatten eben nicht dieselbe Holzschneider-Ausbildung. Hiroshige, der eigentlich Andō Tokutarō hieß, wählte seinen Künstlernamen ergänzt durch das „Utagawa“ der gleichnamigen Schule. Von seinem Lehrer Utagawa Toyohiro übernahm er nach dessen Tod die Werkstatt. Vom Vater hatte er zudem das Amt als Feuerwehrmann geerbt, das er bis 1832 ausübte. In jenem Jahr veröffentlichte er die „53 Stationen des Tōkaidō“, der Straße von Edo (heute Tokyo) nach Kyoto, mit der er den ersten großen Publikumserfolg feierte. Künstlerisch hat er von den belebten Szenen und Naturimpressionen an dieser Handelsroute bis zum späten – wenn auch nicht letzten – Werk der „Famous Places“ eine starke Entwicklung hinter sich gebracht.

Die Berühmtheit dieser Orte („Meishō“) hat eine lange Tradition, viele sind Schauplätze sagenhafter Begebenheiten und in Literatur und Poesie überliefert. Auch die drei als „schönste Landschaften Japans“ geltenden Naturformationen sind darunter: Die Kieferninseln in der Bucht von Matshushima, die kiefernbewachsene Nehrung von Amanohashidate und der Torii vor der Insel Miyajima, das symbolische Eingangstor zum dortigen Shinto-Schrein.

Hiroshiges Ansichten gehören zum Genre der „Ukiyo-e“, den „Bildern der vergänglichen Welt“. Die japanische Variante der Vanitas-Darstellungen zeigt die Natur im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten – etwa die Kirschblüte am Oi-Fluss in Arashiyama oder den Mond über dem Biwa-See bei Kyoto. Und ob die „Gezeiten-Strudel von Naruto“ oder die Wellen des Meeres beim „Bonito-Fischen in der Tosa-Provinz“; der Flug der Kraniche über Saijo oder die Baumkronen der mächtigen Kiefern am Strand von Maiko: Hiroshige zerlegt seine Motive in grafische Strukturen sowie in ein fast ornamentales Gefüge von Flächen wie die Reisfelder beim Berg Kyodai und betont dabei oft auch ein stark dekoratives Element wie das der Kraniche.

Die Publikation umfasst 70 Abbildungen, mit Kurztexten auf Englisch, die nach japanischer Leserichtung von links nach rechts zu blättern sind. © Prestel, München
Die Publikation umfasst 70 Abbildungen, mit Kurztexten auf Englisch, die nach japanischer Leserichtung von links nach rechts zu blättern sind. © Prestel, München

Die verfeinerte Bokashi-Drucktechnik sorgt dabei für die Farbnuancen, die dennoch Tiefenwirkung andeuten. Der in Edo geborene und Zeit seines Lebens ansässige Künstler hat einige, aber bei Weitem nicht alle Orte seiner vielen Druckserien selbst besucht. Auch für die „Famous Places“ benutzte er ältere Veduten als Vorlagen, die er variierte, beschnitt, in Teilen vergrößerte. Vor allem die Entscheidung für das auch in Japan bei Landschaften weniger gängige Hochformat bringt die kompositorischen Neuerungen mit sich. Einerseits die plakative Teilung der Bildfläche in betonten Vorder- und Hintergrund – ohne jene Luftperspektive, wie man sie aus der europäischen Kunst kennt. Andererseits die Dynamik, die Hiroshige durch Diagonale und Vertikale erzeugt. Besonders genial ist das in der Darstellung des Yoro-Wasserfalls: Der mächtige Schwall des Wassers zerschneidet als dominierende Senkrechte das Bild, aufgelockert nur durch die mit Ahorn und Latschen bewachsenen Vorsprünge der steilen Felswand. Durch diese ungewohnte Perspektive verliert das Auge die Orientierung – und das stilisierte Bild bekommt eine suggestive Kraft: Es erzeugt ein Gefühl von Schwindel, als würde man selbst am Abgrund stehen.

Service

BUCHTIPP

Hiroshige: Famous Places in the Sixty-odd Provinces
von Anne Sefrioui, Prestel, München, 35 Euro

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