In ihren Porträts fiktiver Menschen schafft die Malerin Lynette Yiadom-Boakye eine aus der Zeit gefallene Welt, die dennoch berührend persönlich auf die Fragen der Gegenwart antwortet
Von
11.10.2021
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 189
Emily Dickinson hört irgendwann auf, in die Kirche zu gehen. Sie hört auf, überlieferten Dogmen, ewig gültigen Anschauungen und Konventionen zu folgen. Stattdessen sucht sie Wahrheit und Bedeutung in sich selbst, beginnt zu schreiben, schreibt die unglaublichsten Gedichte über diese Suche. Dabei wird die 1830 in der kleinen Universitätsstadt Amherst in Massachusetts geborene Poetin ihr Elternhaus bis zu ihrem Tod 1886 nie wirklich verlassen. Später im Leben wird sie sich als „Frau in Weiß“ beschreiben, fast ausschließlich weiße Kleider tragen, sich mit weißen Dingen umgeben, sich, von Panikattacken geplagt, völlig von der Welt zurückziehen, selbst mit Freunden und Freundinnen nur durch Türen oder Tücher hindurch sprechen. Sie schreibt über 1800 karge, geheimnisvolle, meditative Gedichte, die sich mit den paradoxen Abenteuern der Seele, mit der Suche nach dem Selbst, nach Unendlichkeit beschäftigen. Nur zehn von ihnen werden zu ihren Lebzeiten veröffentlicht. Die Entgrenzung findet Dickinson in der Begrenzung, der Stille, der Poesie, die sie, wie sie selbst sagt, in „Möglichkeiten schwelgen lässt“. Auch davon handeln Dickinsons Gedichte, von der Dichtung, ihrer Rolle als Dichterin, diesem infiniten Raum zwischen Sprache und Bildern, den sie immer wieder mit denselben Worten wie einen Sternenhimmel markiert: Snow, Soul, Dog, Mountain, Infinity.
Es mag paradox erscheinen, einen Text über eine schwarze Malerin und Autorin, die ausschließlich schwarze Menschen, People of Color, malt, mit diesem Bild zu beginnen – einer weißen Dichterin, die in einem weißen Raum sitzt, durch mehr als ein Jahrhundert von ihr getrennt. Doch auf Lynette Yiadom-Boakyes Gemälden scheint es immer wieder auf, dieses poetische Dickinson’sche Weiß, wie eine Markierung – in den Ballettstrumpfhosen oder an den Kragenrändern von Tänzern, die sich in einem lichtdurchfluteten Studio aufwärmen, auf Tischdecken, Kaffeetassen, Unterhosen. Dieses Weiß leuchtet aus Augen oder zwischen den schwarzen Streifen von T-Shirts und Pullovern auf, die die Coolness der frühen Sixties vermitteln und die Jean Seberg oder Jean Genet hätten tragen können, aber die an den gemalten Körpern von jungen schwarzen Männern hängen, diese geradezu definieren. Da ist dieses Weiß, das von dem gebügelten Hemd eines Mannes strahlt, der wie ein Bürgerrechtler entschlossen von einem Stein zum nächsten voranschreitet, um einen Fluss zu überqueren; dieser weiße, dunstige Himmel, unter dem auf „Condor and the Mole“ (2011) zwei Mädchen an einem Strand spielen. Die Zeit scheint stillzustehen. Die Felsen, die aus dem silbrigen Weiß ragen, gleichen platonischen Schatten. In ein Gespräch vertieft, tauchen die Kinder ihre Zehen in Pfützen. Vielleicht sprechen sie darüber, was sie gerade fühlen, was sie sein, was sie tun wollen, wovon sie träumen oder ob sie in einem Traum sind. Und man spürt, in diesem Weiß liegt ein Meer von Möglichkeiten.
Und auch die poetische Sprache der 1977 geborenen Malerin und Schriftstellerin mit ghanaischen Wurzeln erinnert manchmal an Dickinson. Etwa die geheimnisvollen, surrealen Titel, die Yiadom-Boakye ihren Bildern gibt, die scheinbar nichts mit dem zu tun haben, was man da auf den Gemälden sieht. Ihre Titel können ihre Malerei geradezu abkühlen oder eine Flut von Assoziationen oder Geschichten auslösen. Sie können wie Pigmente heißen, wie Tiere, wie Zustände, Amaranthine, Elephant, Complication. Sie können wie die erste Zeile eines Poems klingen, „To Improvise a Mountain“, „Tie the Temptress to the Trojan“. Sie ändern sich wie das Wetter, mit den Stimmungen der Figuren, den Gesten und Farben. Ein junger Mann, in einer Art schwarzem Catsuit mit einem dunklen Federkragen, liegt hingeworfen in einem wogenden Feld, high von der Natur, von einem magischen, existenziellen Moment, der ganz stark an Andrew Wyeths berühmtes Gemälde „Christina’s World“ von 1948 erinnert, auf dem es aber eine weiße Frau ist, die abgewandt im Gras liegt. Doch hier blickt uns ein schwarzer Mann an, weich, sinnlich, fordernd. Yiadom-Boakye betitelt das 2017 entstandene Bild trocken, wie einen Tatort: „8am Cadiz“. Diese an einen Harlekin erinnernde, androgyne Figur taucht immer wieder in anderen Fassungen auf, mal maskuliner, mal femininer. 2012 heißt ein nachdenkliches Porträt dieser Figur „A Passion Like No Other“, ein anderes fast zeitgleich entstandenes Porträt ganz schlicht „Greenfinch“, also Grünfink.
Zu sehen waren ihre Gemälde jüngst in einer von der Londoner Tate Britain organisierten Ausstellung, die im Oktober nach Düsseldorf in die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20 kommt. „Fliegen im Verbund mit der Nacht“, so der poetische Titel der Schau, wurde in enger Zusammenarbeit mit Yiadom-Boakye zusammengestellt und gehängt. Es ist ihre bislang erste Retrospektive und zugleich ihre größte institutionelle Schau. Erstmals wurden rund 70 Gemälde zusammengetragen, die ihre malerische Entwicklung von 2003, dem Jahr ihres Studienabschlusses an der Royal Academy, bis 2020 dokumentieren.
In nur einem Jahrzehnt hat die Künstlerin einen geradezu kometenhaften Aufstieg zu einer der bedeutendsten Malerinnen der Gegenwart erlebt. 2013 wurde sie für den Turner Prize nominiert, in den folgenden Jahren widmeten ihr einige der weltweit wichtigsten Museen Einzelausstellungen, darunter die Londoner Serpentine Gallery, das Haus der Kunst in München und das New Museum in New York. Ihr Gemälde „Diplomacy III“ von 2009 erzielte im Mai dieses Jahres bei Christie’s in New York einen Auktionspreis von 1,95 Millionen Dollar. Ein neuer Rekord für die Malerin, immer aber bewegen sich die Preise für größere Werke im oberen Hunderttausenderbereich.
Die Künstlerin wuchs in Südlondon als Kind von Eltern auf, die in den 1960ern von Ghana nach Großbritannien kamen, um, wie sie sagt, „Jobs zu machen, die hier keiner erledigen wollte“. Sie selbst wollte ursprünglich Optikerin werden, bevor sie Künstlerin wurde, und wirkt heute in Interviews und Gesprächen sehr down-to-earth, fast bescheiden. Ihre Stimme hat etwas Besonnenes, Meditatives. Es ist, als ob sie bei jedem Wort denkt, abwägt, ob es wirklich trifft, was ihr wichtig ist. Jedes Detail, ihre Frisuren, die Jacken, die Schmetterlingsbrille, die schon so etwas wie eine Signatur geworden ist, sind so bedeutsam und zugleich auch so wenig klar lesbar wie die Erscheinung der Figuren auf ihren Bildern. Yiadom-Boakye, das wird auch schnell deutlich, will sich nicht festlegen, kategorisieren lassen, sagt oft lieber gar nichts, als der genauen Interpretation ihrer Bilder Futter zu geben, die sich festgelegten Erwartungen entziehen.