Thea Sternheim

Anmut und Anarchie

Thea Sternheim war eine bedeutende Literatin und Sammlerin der Moderne von Géricault bis Picasso. Eine neue Biografie erinnert an ein Frauenleben, das so wechselvoll war wie seine Epoche

Von Dorothea Zwirner
20.12.2021
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 193

Die junge Frau konnte sich nicht sattsehen an ihrem neuen Bild. „In mein Zimmer hänge ich van Goghs Arlesierin. Es ist köstlich, Geld genug zu haben, um im Besitz eines solchen Kunstwerks zu sein. Der Gedanke packt mich plötzlich, dass die Arlesierin da allein in dem leeren Musikzimmer hängt; ich hole sie herbei und siehe da, sie erfüllt mit ihrem Wesen den ganzen Raum.“ Das schrieb Thea Sternheim Ende Juli 1908 in ihr Tagebuch. Da war sie gerade in ein schlossähnliches Anwesen gezogen und hatte mit 24 Jahren schon einige Skandale hinter sich. Aufgewachsen im wohlhabenden Fabrikantenmilieu ihres rheinisch-katholischen Elternhauses war Thea Sternheim, geborene Bauer, bereits als 17-Jährige mit dem Anwalt Arthur Löwenstein durchgebrannt. Aus der jugendlichen Protestehe ging die erste Tochter Agnes und viel Langeweile hervor, sodass sich Thea schon bald in eine verhängnisvolle Affäre mit dem Ehemann ihrer Internatsfreundin stürzte.

Carl Sternheim hieß der notorische Schürzenjäger, den sie als Dramatiker vergötterte, als Mann begehrte, aber dessen charakterliche Schwächen sie sich schonungslos bewusst machte. Er war der Vater ihrer zweiten Tochter Dorothea, genannt Mopsa, die noch unter dem Namen Löwenstein zur Welt kam. Völlig zerrissen zwischen ihrer Rolle als Mutter, Ehefrau und Geliebte wurde Thea 1907 schließlich geschieden – unter der erpresserischen Bedingung, ihre beiden kleinen Töchter zurückzulassen. Weder die Ehe mit Sternheim noch der neugeborene Sohn Klaus konnten sie über diesen Verlust und die damit verbundene Frage ihrer Schuld hinwegtrösten. Umso wichtiger wurden ihr Tagebuch und die „Nothelfer“ ihres Lebens, die sie in Glauben, Literatur und Kunst fand.

Madame Ginoux, van Goghs „Arlésienne“ vor leuchtend gelbem Hintergrund, heute im Musée d’Orsay, war Thea Sternheims erster Kunstkauf – Auftakt und Maßstab einer kleinen, aber herausragend qualitätvollen Sammlung von Géricault bis Picasso. Heute sind die Werke auf die wichtigsten Museen der Welt verteilt. Doch ist Sternheim nicht nur als Kunstkennerin von Bedeutung, sondern auch als Literatin. Ihr Tagebuch, das sie von 1903 bis zu ihrem Tod 1971 führte, zählt zu den wichtigsten und umfangreichsten Diarien des 20. Jahrhunderts. Auf fast 34 000 eng beschriebenen Seiten entfaltet sich darin nicht nur ein eigenständiges und unkonventionelles Frauenleben, sondern ein umfassendes Panorama, das die kulturelle Blüte dieser Zeit ebenso dokumentiert und analysiert wie die politischen Katastrophen.

Unter den dramatischen Umständen ihres Lebens wurde Sternheim zur Chronistin der Moderne, die sich mit den Schlüsselfragen ihrer Epoche auseinandersetzte. Ihre Reflexionen zur Rolle der modernen Frau, zur bildenden Kunst und Literatur, zu Theater und Kino, zum Pazifismus, Judentum, Katholizismus, Kommunismus, Antifaschismus und zu Europa faszinieren noch heute in der sprachlichen Brillanz und kritischen Treffsicherheit. Doch die Tagebücher sind nicht nur eine unerschöpfliche Fundgrube und Quelle, sondern gewähren darüber hinaus intime Einblicke in die Gefühle, Ambitionen und Zweifel einer Frau auf der intensiven Suche nach ihrer geschlechtsspezifischen Rolle und Identität.

Thea Sternheim Paul Gauguin
Paul Gauguins „Stillleben mit Hündchen“, gemalt 1888, musste Thea Sternheim 1951 verkaufen, heute hängt es im MoMA in New York. © Franz Greiner/courtesy Wallstein Verlag

Trotz dieses buchstäblichen Lebenswerks – vom Wallstein Verlag 2011 mustergültig herausgebracht – ist Thea Sternheim bis heute für die Außenwelt vor allem eines: die Ehefrau des damals umjubelten Dramatikers Carl Sternheim, dessen bissige Satiren auf die wilhelminische Gesellschaft immer wieder von Zensur und Skandalen begleitet waren, aber heute kaum noch auf dem Spielplan stehen. Mit ihm baute sie das repräsentative, dreißig Zimmer umfassende Haus „Bellemaison“ bei München auf, wo neben der „Arlésienne“ schon bald acht weitere van Goghs und je zwei Bilder von Renoir, Daumier und Gauguin hängen sollten. Mit ihrem progressiven Kunstgeschmack, der ganz im Gegensatz zur nationalkonservativen Kunstpolitik des Kaiserreichs stand, waren die Sternheims wichtige Leihgeber bei der Sonderbundausstellung 1912 in Köln, bei der sie Gauguins „Stillleben mit drei Hündchen“ erwarben, das heute dem New Yorker MoMA gehört.

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