Expressionisten bei Ketterer

Brücke-Sammlung wird versteigert

Die herausragende Sammlung von Brücke-Künstlern des Würzburgers Hermann Gerlinger kommt bei Ketterer zum Aufruf. Ein Verlust für die Forschung und die Museumswelt

Von Gerd Presler
09.01.2022

Die Brücke-Sammlung des Würzburger Unternehmers Hermann Gerlinger und seiner Frau Hertha besitzt schon lange einen überragenden Ruf. Kaum eine Ausstellung im In- und Ausland, für die nicht Leihgaben angefragt worden wären – seit Jahrzehnten. „Dem Gewicht und dem Umfang nach dürfte die Sammlung nach dem Brücke-Museum die gegenwärtig wohl wichtigste geschlossene Repräsentation der Brücke-Künstler darstellen“, schrieb der Kunsthistoriker Heinz Spielmann 2005. Und so versammeln sich unter den 896 Arbeiten: Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Holzschnitte, Radierungen, Lithografien, Skulpturen, Silberschmuck, Steinreliefs, Holzarbeiten und Mosaike auch Plakate, bemalten Postkarten, von den Künstlern gestalteten Kataloge und Mitgliederlisten. Nun soll die Sammlung ab Juni über vier Jahre verteilt im Münchner Auktionshaus Ketterer versteigert werden.

Das Moment des Dokumentarischen spielte für Hermann Gerlinger eine besondere Rolle. Der Sammler ging auf seiner Suche nach den Spuren des Schöpferischen weit zurück. Von Karl Schmidt-Rottluff fand er aquarellierte „Naturstudien“ aus der Zeit, als dieser noch zur Schule ging, gerade fünfzehn Jahre alt. Aus dem Schaffen von Ernst Ludwig Kirchner erwarb er zwei Skizzenbücher, die in den Jahren 1900 und 1901/2 mit 23, bzw. 24 Blatt früheste Zeugnisse des aufbrechenden Talents enthalten, noch gefesselt durch eine strenge, jedes Detail beachtende Wiedergabe des Gesehenen in Form und Farbe. Und doch gibt es ein Blatt, das diese Enge durchbrach: Der 21-Jährige zeichnete seinen Vater, schraffierte einen lebhaften Hintergrund und ließ Partien frei. Hier findet sich mehr als Anpassung; hier werden neue Formen und neue Freiheiten eingefordert. Das gilt auch für Erich Heckel und seinen Holzschnitt „Über dem Hügel“ von 1903. „Erstaunlich ist Heckels kompositorische Sicherheit bei der Verbindung der unterschiedlichen Landschaftselemente“, erläutert Hermann Gerlinger. „Erstaunlich ist […] die Beherrschung dieser für Heckel neuen Technik.“

Insgesamt gelang es Hermann Gerlinger und seiner Frau, exemplarische bildnerische Zeugnisse der Brücke-Jahre zwischen den allerersten Anfängen und dem ausklingenden Schaffen von Heckel und Schmidt-Rottluff um 1970/76 zusammenzutragen. Sie vermitteln eine Vorstellung davon, was im Jahr 1906 in Dresden aufbrach und „Programm“ wurde: „Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.“

Der Anfang der Sammlung

Seine erste Erwerbung gelang dem Studenten Hermann Gerlinger in den 1950er-Jahren, als er in einer Galerie Karl Schmidt-Rottluffs Holzschnitt „Melancholie“ entdeckte: „Eine von vorn gesehene sitzende Frau (Kniestück) mit gesenktem Kopf und schwermütigen Augen beherrscht die Komposition. Vor ihr auf dem Tisch afrikanische Gefäße. Im Hintergrund eine ganz von ihr überschnittene nackte weibliche Gestalt.“, so beschrieb Rosa Schapire dieses Blatt im Werkverzeichnis von 1924. Über längere Zeit stotterte der von der Wucht des Werkes angezogene künftige Sammler seine Ersterwerbung in Raten von 5 D-Mark ab. Der Einstieg in das, was heute vorliegt, war geschafft.

Porträts des Mädchens Fränzi

Drei Gemälde stechen aus der Fülle wertvoller und wertvollster Arbeiten hervor: Im Sommer 1910 fuhren die Brücke-Maler Kirchner, Heckel und Pechstein an die Moritzburger Teiche, um zu malen. Bei ihnen die noch nicht 10-jährige Lina Franziska Fehrmann, deren Lebhaftigkeit und Spontaneität die Maler immer erneut inspirierte. Kirchner fing dieses Feuer im Skizzenbuch ein. Und es entstand das Gemälde „Das blaue Mädchen in der Sonne“. Heinz Spielmann hebt die „malerisch-koloristische Qualität hervor. […] Kirchner steigert die Leuchtkraft durch das Schwarz des Haares und sparsam eingesetzte schwarze Konturen. Die kühne blaue Farbe des Mädchens macht das warm leuchtende Sonnengelb umso bewußter.“

Sammlung Gerlinger Erisch Heckel Fränzi Ketterer
Erich Heckel Aquarell „Fränzi mit Decke“ entstand 1909 an den Moritzburger Teichen nördlich von Dresden. © Ketterer

Schon 1909 schuf Erich Heckel, ebenfalls an den Moritzburger Teichen, das hinreißende Aquarell „Fränzi mit Decke“. Eines der Glanzlichter der Sammlung Gerlinger. 1910 entstand ein Interieur, in dem Fränzi zusammen mit dem Nachbarjungen Hans zu sehen ist. Hier lässt sich anhand einer Bleistiftzeichnung desselben Themas, die auch zum Bestand der Sammlung Gerlinger gehört, die Arbeitsweise Heckels nachvollziehen. Dass beide Werke in die Sammlung zusammenfanden: Ein Glücksfall; geschuldet der Aufmerksamkeit und der Strategie des klugen Sammlers. Das Gemälde „Lesende“ von Karl Schmidt-Rottluff überrascht mit seiner kubistisch-facettierten Flächengestaltung. Sie kommt aus seinen Holzschnitten und ist ein Stilmittel, das die für den Maler typische „Flächenwucht“ artikuliert.

Hermann Gerlinger gibt seine Sammlung an die nächste Genration weiter. Das ist eine noble Geste. Zugleich bleibt Bedauern zurück. Die kompletteste Brücke-Dokumentation mit ihren wertvollen Dokumenten wird es nicht mehr geben. Eine bedeutsame Quelle für die kunsthistorische Forschung sprudelt nicht mehr. Und der Leihverkehr wird schwierig.

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