In der israelischen Architektur dominierte seit den 1960er-Jahren der Brutalismus und ein expressiver Umgang mit Beton. Heute sind viele Bauten dieser Zeit vom Verfall bedroht. Die Berliner Fotografin Stephanie Kloss hat ihre rohe Schönheit eingefangen
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21.01.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 194
Dem Mann aus dem polnischen Karpatenvorland wurde das zuteil, was sich viele Architekten allenfalls in einsamen Visionen vorzustellen wagen: die Neuplanung eines ganzen Staates. Arieh Sharon, aufgewachsen im damals noch habsburgischen Galizien und schon 1920 als Zwanzigjähriger nach Palästina ausgewandert, wird nicht erst seit seinem Tod 1984 als Vater der israelischen Architektur verehrt. Von 1926 bis 1931 kehrte er nach Europa zurück, um am Bauhaus zu studieren, dessen Prinzipien er danach in der „Weißen Stadt“ in Tel Aviv, aber auch bei der Errichtung von Kibbuzim maßgeblich mit im Land verbreitete. Seine zweite, noch sehr viel einflussreichere Karriere begann unmittelbar nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948. Ministerpräsident David Ben-Gurion ernannte Sharon zum Leiter einer ihm direkt unterstellten Behörde, die einen „Nationalen Gliederungsplan“ für den Ausbau Israels zum Industrie- und Agrarstaat einschließlich Wohn- und Arbeitsraum für zwei Millionen Einwanderer entwickeln sollte.
Gemeinsam mit 170 Architekten, Urbanisten, Soziologen, Ingenieuren, Ökonomen und Agrarspezialisten arbeitete Sharon in zwei Jahren eine der faszinierendsten – und auch erfolgreichsten – planerischen Visionen der Geschichte aus. Das kleine Land, eingezwängt von Feinden, die es immer wieder angriffen, sollte ein modellhaftes Gemeinwesen werden, Rettungshafen für Jüdinnen und Juden aus aller Welt, zugleich die real gewordene Utopie einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft mit sozialistischen Zügen der Staatsfürsorge und des kollektiven Aufbauwillens. Der Sharon-Plan und der Wille der Regierung entfesselten eine fieberhafte Bautätigkeit. Zwanzig neue Städte entstanden, Kibbuzim, Dörfer, Siedlungen, genauso wie Fabriken, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Kraftwerke, Museen und vieles mehr. Mit Straßen und Eisenbahnen wurde das Land erschlossen, vor allem auch die Wüste Negev im Süden, wofür aufwendige Wassersysteme vom Norden nötig waren. Ein moderner Staat wurde aus dem Boden gestampft und der nur partiell günstigen Natur abgetrotzt.
In den Fünfzigern bestimmten noch das Bauhaus und der klare International Style das Bild, aber um 1960 kam eine neue Generation zum Zug, die ganz auf die Sichtbarkeit des Betons setzte und mit diesem Material (das sich zudem mit den eigenen Ressourcen des Landes herstellen ließ) eine expressive Formenfülle entfaltete, die noch heute in Bann schlägt. „Mit Beton gießt du eine Skulptur und erhältst ein Gebäude“, sagte der Architekt Avraham Yasky. Schwere Blöcke, die auf alle nur denkbaren Weisen aufgebrochen und zerklüftet sind, gerasterte Öffnungen, Institute, die sich wie futuristische Maschinen aufblähen, Kinos als prismatische Plastiken, surreal anmutende Studentenwohnheime, Schutzdächer wie Pilze, Fensterlandschaften wie Bienenwaben, Fassaden mit Kaskaden von kantigen Stalaktiten: Der Erfindungsreichtum des Brutalismus, wie diese Architektur schon damals genannt wurde, kannte keine Grenzen. Es war eine staatsfinanzierte Baukunst, bei der nicht der Profit zählte, sondern der Nutzen für den neuen Staat und die Identitätsfindung der Menschen. Der Sichtbeton, obgleich damals in aller Welt verbreitet, galt als „israelisches“ Material. Und die jungen Architekten, zum Teil noch nicht einmal dreißigjährig und meist schon im Land geboren, realisierten eine Fülle von Projekten, von denen ihre Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern nur träumen konnten.
Als die Berliner Fotokünstlerin Stephanie Kloss 2008 zum ersten Mal nach Israel kam, war sie schnell fasziniert von der Fülle und dem Formenreichtum der brutalistischen Architektur. Sie reiste immer wieder in das Land und begann mit einer aufwendigen Fotorecherche zu Kibbuzim, die auch oft im futuristischen Baustil aus Beton errichtet wurden. Das Bauhaus Dessau stellte 2011/12 ihre Kibbuz-Serie aus. Noch nie öffentlich zu sehen waren hingegen Kloss’ Bilder von den öffentlichen Bauten der Sechziger- und Siebzigerjahre, die wir in unserem Portfolio zeigen. Über die Jahre machte sie Tausende von Aufnahmen; aus diesem Fundus hat sie jetzt einige besonders schöne Bilder ausgewählt. Sie entstanden alle im Jahr 2014, als Kloss dank eines Stipendiums drei Monate in Tel Aviv lebte und auf der Suche nach interessanten brutalistischen Bauten kreuz und quer durchs Land fuhr.
Architektur spielte immer eine zentrale Rolle in Kloss’ fotografischem Werk. Dokumentarisch sind ihre Ansichten nicht. „Die Kontextualisierung der Bauten in ihrem Umfeld interessiert mich nicht. Das ist oft enttäuschend“, erklärt die Künstlerin. In Israel sind die architektonisch so aufregenden Bauten oft vernachlässigt und in erschreckendem Zustand. Ganz anders als zu ihrer Entstehungszeit in den Sixties – als die Menschen stolz darauf waren, weil sie die rasende Entwicklung und den wachsenden Wohlstand des jungen Staates verkörperten – sind die brutalistischen Bauten seit den Achtzigerjahren nicht mehr beliebt. Vor allem die solide Betonkonstruktion bewahrt sie vor der Zerstörung, dafür werden sie oft umgebaut und in ihrem Charakter empfindlich verunklärt. Sie sind bedroht, auch wenn es zunehmend eine internationale Gemeinde von Brutalismus-Fans gibt, die für den Erhalt dieser einzigartigen Bauten kämpft. Die schirmartigen Schutzdächer am Atarim-Platz in Tel Aviv, die sie aufgenommen hat, wurden schon vor einigen Jahren abgerissen. Die Immobilienpreise in der Stadt gehören mittlerweile zu den teuersten der Welt, da wächst der Druck der Investoren.
Das Fotografieren von Architektur ist für Kloss ein Prozess der Annäherung, dazu gehört auch viel Recherche. Sie geht nah dran mit der Kamera. Totalansichten gibt es bei ihr nicht, auch die Dimension der Bauten, ihr Größenverhältnis im Verhältnis zum Menschen ist für sie nicht von Belang. Sie isoliert Fassadenstrukturen und andere Details, die durch ihren Blick ein ästhetisches Eigenleben gewinnen. Durch diese Reduktion präpariert Kloss die Schönheit dieser Architektur heraus, führt mit fast haptischer Präsenz die Plastizität der Baukörper und der Einzelformen vor, die durch ihren Fokus wie lauter Skulpturen wirken. Es sind eingefrorene Momente des physischen Erlebens, und ein trügerischer Hauch von Ewigkeit weht durch die Bilder. Der Gründergeist, der Idealismus und die Utopien, die sich beim Aufbau Israels mit der Betonästhetik verbanden, sie sind in diesen Fotografien allgegenwärtig.
Stephanie Kloss,
Projektraum „Möglichkeit einer Insel“,
Zvi Efrat,
„The Object of Zionism. The Architecture of Israel“,
Spector Books, 2018, 62 Euro