Durch das Berliner Atelier von Miron Schmückle weht der Geist der frühen Neuzeit. Der Schriftsteller Mathias Gatza hat den Maler besucht und sprach mit ihm über die Schönheit und das Geheimnis der Pflanzen
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09.05.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 197
Nachrichten über die Flora und Fauna ferner Welten, von den Wundern der Natur, waren seit der Renaissance, also im Zeitalter der Welterkundung, von hohem Wert. Eroberung von Natur und Welt geht bis heute Hand in Hand. Es kommen damals Pflanzen und Tiere nach Europa, die im biblischen Schöpfungsplan nicht vorgesehen sind. Morphologisches Neuland und ganze Pflanzengattungen, die vor das Auge und weiter auf das Papier gelangen. Die Darstellungen widersetzten sich der mittelalterlichen Symbolik, die alles Bekannte in die göttliche Sprache einordnete. Eine Blume, die von Symbolen noch nichts weiß, steht, von jedem Dogma befreit, auf Bildtafeln erstmals nur für sich. Eine Blume ist eine Blume ist eine …
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts fördert das Auge nicht nur Entdeckungen aus fernen Ländern, sondern auch aus dem Mikrokosmos eines Wassertropfens hervor. Die technische Bewaffnung des Sehens hält Einzug in die Malerei. Baruch de Spinoza ist ein gefragter Linsenschleifer, Antoni van Leeuwenhoek macht aus diesen Linsen die besten Mikroskope, der Mediziner Jan Swammerdam entdeckt die Eier der Insekten und zeichnet als Erster eine anatomisch exakte Gebärmutter, Maria Sibylla Merian schwelgt in den Metamorphosen der Schmetterlinge. Und Rachel Ruysch, Tochter eines Professors für Anatomie und Botanik, wird eine gefeierte Blumenmalerin. Allen voraus geht Joris Hoefnagel mit seinen Tafelwerken. Eine Zeit der Befreiung, als würde die Menschheit die Augen öffnen und die Urszenen von Fortpflanzung, Befruchtung und Kreation erkennen. Nördlich der Alpen entwickelt sich ein von der Dogmatik befreites, begehrendes Sehen. Die Stilllebenmalerei ist in diesem fortschrittlichen Licht viel weniger eine christliche Warnung vor der Vergänglichkeit als ein Fest des Vegetativen, des Lebens, des Geschlechtlichen. Das Sichtbare wird neu geordnet. All die genannten Künstler und Forscherinnen sind Intellektuelle im modernen Sinne. Sie sammeln, und sie ordnen ein.
Ihr Zeitgenosse heute heißt Miron Schmückle. Er ist ein Meister darin, unbekannte Blumen zu finden. Sicher, heute werden nur noch selten Pflanzen entdeckt, und es braucht Geduld und Leidenschaft, sie zu finden. Seine Blumenstillleben wirken, als sei ein Botaniker in einen abgelegenen Krater gekraxelt oder habe Kilometer unter der Wasseroberfläche eine Pflanze, die sich seit Jahrmillionen vor dem erkennenden Auge verborgen hatte, in den heißen Schwefelklüften entdeckt. Die Pflanzen sind morphologisch exakte Täuschungen.
Schmückles neue Gattungen wachsen aus platonischen Ideenhimmeln in unsere Welt und wuchern und ranken dreidimensional auf der weißen Ebene seines Malkartons. Seit nahezu einem Vierteljahrhundert komponiert der Künstler diese opulenten Schönheiten, mit denen das Sehen kaum fertigwerden kann.
Wie wird man im 21. Jahrhundert Zeitgenosse des Barocks?, frage ich mich auf dem Weg ins Atelier des Künstlers. Schmückle zu besuchen gleicht einem Hochseilakt zwischen den Zeiten. Direkt gegenüber dem monumentalen, gerade fertiggestellten Springer-Digitalpalast von Rem Koolhaas steht ein unscheinbares Haus mit einer grauen Fassade, die indes eines der wenigen Barockhäuser Berlins von 1765 verbirgt. Betritt man das Atelier, atmet man den Geist des 18. Jahrhunderts. Schwarze Holzböden mit Perserteppichen. Exponate, die Wunderkammern und Naturalienkabinetten entstammen, Steine, Tierpräparate, Totenschädel von Säuglingen und zahlreiche Schmetterlingskästen. Die umfangreiche Bibliothek, die dem Atelier vorgelagert ist, weist Miron Schmückle endgültig als Gelehrten aus.