Anish Kapoor bespielt zur Biennale in Venedig gleich zwei große Ausstellungsorte. Vor allem der Palazzo Manfrin wird zum Tor zu seinem anspielungsreichen Kosmos
ShareWer in den letzten Monaten nächtens am Cannaregio-Ufer in Venedig entlangspazierte, sah im Palazzo Manfrin noch bis spät die Lichter brennen. Das Team um die Architektin Giulia Foscari, die in der Lagunenstadt aufgewachsen ist und mit UNA studio ein Büro in Hamburg betreibt, teilrenovierte in Rekordzeit den gewaltigen Palast, der zur Kunstbiennale als neuer Sitz der 2017 gegründeten Anish Kapoor Stiftung eröffnet hat. Beim Ortstermin berichtet sie, dass das um 1500 begonnene Gebäude in verschiedenen Epochen erweitert und zuletzt im 20. Jahrhundert nachhaltig baulich verändert wurde. Dieser Sachverhalt ermöglichte die größte Intervention der Stiftung, nämlich die Öffnung der Wände von drei aufeinander folgenden Räumen im Untergeschoss. In diesem temporären Rohbau-Setting (ab Mitte Oktober erfolgt bis 2024 der Bauabschluss) wird kongenial Kapoors Installation „Destierro“ von 2017 gezeigt.
Über 100 Tonnen Rot pigmentierte Erde füllen die Hallen und inmitten der hügeligen Farbmassen erhebt sich ein Bagger in Yves-Klein-Blau, als sei die Renovierung noch in vollem Gange. Diese Arbeit wurde ursprünglich ortspezifisch für die öffentliche Gedenkstätte Parque de la Memoria zur Erinnerung an die Opfer des staatlichen Terrorismus der argentinischen Militärjunta von 1976 bis 1983 als Symbol für die Vertreibung, Verschleppung und Ermordung der Zivilisten konzipiert. Sie zeigt anschaulich die gesellschaftlichen Umwälzungen, die auch eine Flüchtlingsbewegung auslösten. Die blutrote Erde und der farblich konträr darauf emporragende Bagger lassen in Venedig unmittelbar an den andauernden Ukraine-Krieg und die damit verbundene Migration denken, aber auch an das geografisch näher liegende Krisengebiet im Mittelmeer, wo weiterhin viele Menschen unter Lebensgefahr versuchen, nach Europa zu gelangen.
Dass Kapoors Arbeiten zeit- und kulturübergreifend erfahrbar sind – die Retrospektive im Palazzo Manfrin und im zweiten Ausstellungssitz Gallerie dell’Accademia umfasst 60 Werke von 1979 bis heute – zeigt auch die monumentale In-situ-Installation im Eingangsbereich des Palastes „Der Berg Moriah an der Pforte des Ghetto“ von 2022. Diese bezieht sich auf den auf der gegenüberliegenden Kanalseite befindlichen Eingang des jüdischen Bezirks, der 1516 von der Republik Venedig für die jüdische Bevölkerung mit restriktiven Regularien eingerichtet und 1797 von Napoleon abgeschafft wurde. Der unscheinbare, niedrige Durchgang inmitten von hohen Mehrfamilienhäusern ist das von Kapoor zitierte Tor zu dem ältesten Ghetto der Welt. Es führt in schmale Gassen mit engen Häuserfluchten, denn der Bauplatz war begrenzt und daher türmen sich die Wohnungen und Synagogen über- und ineinander.
In engem Bezug zur Repression gegen die jüdischen Mitbürger in Venedig, welche unter dem Nazi-Regime mit 264 Todesopfern einen dramatischen Höhepunkt erreichte, erhebt sich hinter der Pforte von Palazzo Manfrin eine wuchtige schwarz-rote Acryl-Spirale, die an ein Inferno erinnert. Was hier tonnenschwer von der mit Metallträgern verstärkten Palastdecke hängt, wurde im Studio des Künstlers in London umgekehrt konzipiert und erinnerte während des Aufbaus formal an den im Titel zitierte Berg Moriah. Sie bezieht sich auf den Ort, von dem die alttestamentarische Genesis berichtet, dass sich dort das Abrahams-Opfer zugetragen hat. Gott stellt den Stammvater Israels auf die Probe und fordert ihn auf, seinen Sohn Isaak zu opfern, doch im letzten Moment interveniert ein Engel, und es kommt zu einem glücklichen Ende. Dabei handelt es sich um eine jener Bibelstellen, die aufgrund der existenziellen Entscheidung zwischen Glauben und Ratio von allen großen Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam – rezipiert und interpretiert wird. Kapoors abstrakte Installation evoziert das drohende Unheil, wobei die zum Betrachter hin spitz zulaufende Spirale unmittelbar an das ausgezogene Schwert erinnert.
Gleichzeitig offenbart dieses Werk einen von vielen ikonografischen Verweisen auf die venezianische Kunstgeschichte, denn eines der berühmtesten Gemälde Tizians von 1542–44 zeigt dieses Bildthema. Auf der in der Salute-Basilika befindlichen großformatigen Leinwand ist der hochdramatische Moment dargestellt, in dem der Junge schon in Opferstellung seinen Kopf nach unten dreht und sein Vater mit dem Dolch zum Schlag ausholt, als aus dem dunkeln Gewitterhimmel ein Engel hervorbricht und einschreitet. Das Thema des Blutopfers wird bei Kapoor auch explizit in der Arbeit, die ergänzend zu der abstrakten Plastik den Eingangsbereich bespielt. Die Skulptur „Die Verwandlung von Wasser zu Spiegel. Blut im Himmel“ von 2003 besteht aus einem stählernen Bottich, in dem motorbetriebenes dunkelrotes Wasser eine in die Tiefe führende Spirale formt.
Ergänzend zu diesem Ensemble präsentiert Kapoor im Obergeschoss eine weitere großformatige Komposition, die mit einer entgegengesetzten Bewegung in die Höhe führt. Auf diese Weise schafft der Künstler innerhalb der Ausstellung eine spannende Dynamik. Im hohen Ballsaal, dessen Fensterfront zum Kanal zeigt, schlägt er versöhnlichere Töne an. Seine Installation „Symphonie für eine geliebte Sonne“ von 2013 zeigt eine mit 1000 x 800 x 800 cm exorbitante rote Leinwand-Scheibe, die auf Metallstreben ruht, und sich über einem mit dunkelroten Wachsbrocken bedeckten Boden erhebt. Von unten führen zwei gegenüberliegende schmale Lastenbahnen nach oben, deren Bänder unaufhörlich hin zur Scheibe rollen, aber kein Material tragen. So gibt es physisch keine direkte Verbindung zwischen den irdisch verhafteten Wachselementen am Boden und der im Barockhimmel gleißenden Sonne. Vielmehr bleibt diese bombastische Symphonie suspendiert und lässt zunächst sprachlos.
Dann aber findet sie eine sukzessive inhaltliche Konkretisierung in den darauffolgenden Gemälden, Skulpturen und Mischtechnik-Installationen. So bietet zum Beispiel die im Nebenraum positionierte Serie „Portrait of Pink I-III“ von 2019 eine sexuell aufgeladene Interpretation der ‚geliebten Sonne‘, wenn man die kreisrunden Elemente als Körperteile liest. Die dann folgenden großen Spiegelinstallationen wie „Vertigo“ von 2006, „Gold“ von 2020 oder „Painting ƃuᴉʇuᴉɐd“ von 2021 sind wiederum ein Anlass zur Selbstreflektion. Sie führen einmal mehr vor Augen, dass hinter den großen künstlerischen Gesten im Palazzo Manfrin in Venedig mit Anish Kapoor ein Mensch steht, dessen kontinuierliche Introspektion von jeher drängende transkulturelle Fragen aufwirft.
„Anish Kapoor in Venice“
Palazzo Manfrin und Gallerie dell’Accademia, Venedig
bis 9. Oktober 2022