Ukrainische Kunst

Unwucht im Kunstbetrieb

Worüber sprechen wir, wenn wir über europäische Kultur sprechen? Der Krieg in der Ukraine wirft auf dem Kunstmarkt und in den Museen unangenehme Fragen auf

Von Nina Schedlmayer
28.04.2022

Auktionshäuser, Galerien, Museen, Künstlerinnen und Künstler, Sammlerinnen und Sammler: Zahlreiche Institutionen und Einzelpersonen werfen aktuell ihr kulturelles und ökonomisches Kapital in die Waagschale, um Gelder für die Ukraine zu sammeln. Das Ehepaar Karlheinz und Agnes Essl ließ vom Wiener Dorotheum hundert Werke seiner Kollektion für insgesamt 280.000 Euro versteigern, bei Grisebach in Berlin kamen mit 33 gespendeten Werken von 34 Kunstschaffenden 190.000 Euro zusammen, und das Kunstzentrum Atelierfrankfurt erzielte in Kooperation mit Christie’s über 100.000 Euro für die Ukraine. Das Stuttgarter Kunstmuseum erließ an einem Wochenende dem Publikum den Eintrittspreis, legte allerdings nahe, die entsprechende Summe in eine Spendenbox zu werfen; ebenso das Wiener Leopold Museum, wo 4000 Euro für Apotheker ohne Grenzen zusammenkamen.

Jede einzelne dieser Initiativen ist begrüßenswert. Doch der Krieg in der Ukraine wirft auch ein anderes und ziemlich unangenehmes Licht auf den europäischen Kunstbetrieb. Denn er führt einmal mehr dessen geografische Unwucht vor. Viele Kunstinteressierte in Mittel- und Westeuropa hören seit einigen Wochen das erste Mal von Namen wie Marija Oksentijiwna Prymatschenko oder Nikita Kadan. Dass Marie Bashkirtseff auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren wurde, wissen ebenso wenige wie dass Malewitsch in Kiew das Licht der Welt erblickte. Bekannter ist da schon der Ort, an dem Medienkünstler und -theoretiker Peter Weibel seinen ersten Schrei tat: Odessa.

All das wird erst jetzt bewusst. Denn bisher war die Kunst aus der Ukraine am europäischen Kunstmarkt, ja auch in den Institutionen, ein weißer Fleck: So war auf der „Spark“, der Wiener Kunstmesse, die sich auf Einzelpositionen fokussiert, keine einzige ukrainische Galerie vertreten; der größere Bruder, die Viennacontemporary, zeigte in den vergangenen Jahren stets bloß eine Galerie aus dem Land, in dem bis vor Kurzem rund 42 Millionen Menschen lebten. Einzig die Voloshyn Gallery aus Kiew reiste regelmäßig zu dem Event an, dabei hat sich die Viennacontemporary den Fokus zu Ost- und Südosteuropa auf die Fahnen geheftet. Aus dem Unternehmen ausscheiden wird nun der russische Unternehmer Dmitry Aksenov, wie eine Pressemitteilung jüngst bekannt gab. Aksenov hatte in den vergangenen Jahren üppig in die Veranstaltung investiert (seine Eltern sollen übrigens, wie der Standard herausfand, aus der Ukraine stammen, er selbst in Prypjat nahe Tschernobyl aufgewachsen sein). Die Trägerorganisation der Messe wird in eine Nonprofit-Organisation mit Sitz in Wien umgewandelt. Für die kommende Ausgabe ist nun ein Ukraine-Schwerpunkt geplant.

Kateryna Berlova Videostill Krems Ukraine
Kateryna Berlova zündet in ihrer Videoarbeit „I’ve always dreamt of flying“ (2021, 4’35”) auf einem Hügel mit Blick auf Kiew ein Feuerwerk, hier ein Still. © Kateryna Berlova

Es ist merkwürdig: Zwar nimmt der Kunstmarkt für sich gern in Anspruch, „global“ zu agieren. Ohne internationale Ausrichtung geht gar nichts. Doch wie weltumspannend ist ein Kunstbetrieb, ein Markt, der zwar ständig neue Interessensgebiete wie Asien entdeckt, dabei aber das vernachlässigt, was direkt vor der Haustür liegt? Lemberg ist von Wien nicht besonders viel weiter entfernt als Vorarlberg, das westlichste Bundesland Österreichs. Doch erst jetzt  – und das auch nur in sehr geringem Ausmaß – kommen wir in den deutschsprachigen Ländern drauf, dass es weiter im Osten Europas ebenfalls Kunst gibt. Lange Zeit zerfleischte man sich ob des Eurozentrismus der Kunstblase – die Tatsache negierend, dass es damit ohnehin nicht so weit her sein kann, wenn das Interesse bereits an den Grenzen zum einstigen Eisernen Vorhang endet. Doch wer trägt Schuld daran? Alle gemeinsam, die Autorin eingeschlossen.

In der Stadt Krems, eine Bahnstunde von Wien entfernt, lebt und arbeitet derzeit eine ukrainische Künstlerin, die üblicherweise in Kiew ansässige Kateryna Berlova, in einer Artist Residency. Sie schafft bestechende Videoarbeiten; eine davon heißt „I’ve always dreamt of flying“. Darin schlendert die Künstlerin in einem rosa Kleid durch die Stadt. Hinter sich schleift sie einen Strauß Rosen her, der immer kaputter wird – bis nur noch wenige Blumen übrig sind. Schließlich zündet sie auf einem Hügel mit Blick auf Kiew ein Feuerwerk. Es ist eine formal starke Arbeit, vielschichtig und ein wenig magisch. Doch Berlova hat noch nicht viele Ausstellungen gehabt. Wenn sie ihren Wohnsitz in London, Berlin oder Paris hätte – wo wäre sie dann? Auf einer Biennale? In einer Galerie? Und über oben erwähnte Marija Oksentijiwna Prymatschenko, eine 1997 verstorbene Autodidaktin, die fröhlich-bunte Kosmen aus Blumen, Tieren und Fabelwesen schuf, schrieb die FAZ: „Eigentlich gehörten ihre Werke ins New Yorker MoMa.“ 1936 war Prymatschenko bei der Weltausstellung, sogar Picasso lobte sie. Doch nun zerstörten die russischen Aggressoren ein Museum im nordukrainischen Iwankiw und mit ihm zahlreiche Werke der Künstlerin, wie europäische Medien berichteten.

Das Furchtbare daran ist: Erst dieser entsetzliche Krieg richtet das Augenmerk auch auf die Kunst des zweitgrößten Landes Europas. Es wird Zeit, zu hinterfragen: Worüber sprechen wir überhaupt, wenn wir über europäische Kultur sprechen?

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