Kulturgut im Ukraine-Krieg

Im Fadenkreuz

Mit vereinten Kräften stemmt sich die Ukraine gegen die Zerstörung ihres Kulturerbes. Wir haben Geschichten aus Kiew und Berlin, Genf und Lwiw gesammelt

Von Simone Sondermann
04.05.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 198

Als Volo Bevza am 20. Februar nach Kiew reiste, wusste er nicht, dass er seine Bilder in Gefahr gebracht hatte. Der ukrainische Maler, der seit Jahren in Berlin lebt und an der Kunsthochschule Weißensee lehrt, freute sich auf die Eröffnung seiner Ausstellung in seinem Heimatland. Alles war vorbereitet, die gerahmten Werke hingen an den Wänden. Dann brach der Krieg aus. Volo Bevza und seine Freundin, die Fotokünstlerin Victoria Pidust, flohen wie so viele vor der Bombardierung Kiews ins westukrainische Lwiw. Doch seine Bilder musste Bevza zurücklassen. Nicht einmal die gerollten, noch nicht gerahmten Gemälde passten in den Wagen. Alles blieb zurück. Da hängt und liegt nun sein Werk, in einer Ausstellung ohne Besucher, in einer umkämpften Stadt, in einem Krieg mit ungewissem Ausgang.

Vor dem drohenden Verlust, vor dem Volo Bevza steht, steht gerade die gesamte Ukraine. Ihr Kulturgut ist bedroht, nicht nur die kulturelle Leistung einzelner Menschen, sondern auch das Kulturerbe des Landes, ja der Menschheit. Die Ukraine verfügt über etwa 5000 Museen, über sieben Unesco-Welterbestätten, über zahlreiche Archive und Bibliotheken. Laut einem ersten Bericht der UN wurden bis Anfang April 53 Kulturstätten beschädigt, darunter vier Museen. Jeden Tag kommen neue Meldungen hinzu, mittlerweile ist die Zahl auf 250 gestiegen, und vieles liegt noch im Dunkeln. Jüngst berichtete die New York Times über die Plünderung bedeutender antiker Goldobjekte im besetzten Melitopol und über den Raub von Gemälden aus Museen im zerstörten Mariupol.

Johann Georg Pinsel Kulturerbe Ukraine Krieg
Die Museen in Lwiw verfügen über die weltweit größten Bestände des bedeutenden Barockbildhauers Johann Georg Pinsel. © Elena Subach

Seit der Haager Konvention von 1954, die als Reaktion auf die massiven Kulturzerstörungen im Zweiten Weltkrieg verabschiedet wurde, gebührt dem Kulturgut in Zeiten des Krieges besonderer Schutz. Unter Kulturgut versteht man „bewegliches oder unbewegliches Gut, das für das kulturelle Erbe der Völker von großer Bedeutung ist“. 1998 hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag vorsätzliche Angriffe auf religiöse und kulturelle Einrichtungen oder Denkmäler als Kriegsverbrechen definiert. 2016 gab es den ersten Prozess: Der Führer einer islamistischen Terrormiliz wurde wegen Zerstörungen in der Unsesco-Weltererbestadt Timbuktu verurteilt.

Die islamistische Gewalt gegen Kulturstätten in Afrika und im Nahen Osten führte 2017 zur Gründung der internationalen Stiftung ALIPH. Zwei Jahre zuvor hatten die Zertrümmerung der antiken Statuen im Mosul Museum im Irak und die Sprengung der Welterbe-Stadt Palmyra die ganze Welt entsetzt. Die Stiftung mit Sitz in Genf hat sich dem Schutz des Kulturerbes in Konfliktgebieten verschrieben und finanziert schwerpunktmäßig Projekte im Nahen Osten: in Beirut nach der Explosionskatastrophe 2020, im irakischen Hatra, in Mosul. Aus dem Nahen Osten kommt auch das meiste Geld für die Projekte der Stiftung. Wichtige Geberländer sind neben Frankreich vor allem Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, hinzu kommen private Mäzene. ALIPH war die erste Organisation, die Geld zum Schutz von Kulturgut in der Ukraine zur Verfügung stellte, zwei Millionen Dollar für ein Notfallprogramm. Weitere Summen sollen folgen, auch später nach Kriegsende für den Wiederaufbau. Das Geld ging vor allem in die Anschaffung von Schutzmaterial. „Von den Leuten vor Ort hören wir, dass sie Kisten und Feuerlöscher am meisten brauchen“, erläutert Sandra Bialystok, die Sprecherin der Organisation, ihr Vorgehen. „Also versuchen wir, das Material außerhalb der Ukraine zu beschaffen und dann ins Land bringen zu lassen. Auch feuerfeste Decken und Verpackungsmaterial. Wir unterstützen die Institutionen zudem bei der sicheren und sachgemäßen Lagerung der Werke. Es bedarf ausreichend trockener Unterbringungsorte, damit Ikonen zum Beispiel, die sehr empfindlich sind, keinen Schaden nehmen.“ Über ein wissenschaftliches Netzwerk in Polen gelangen die Anfragen aus der Ukraine an die Partnerorganisationen von ALIPH, und über Polen gelangt das Material dann auch an sein Ziel.

Elena Subach Kulturerbe Ukraine Lwiw
Die Fotografin Elena Subach arbeitet als Kuratorin in der Nationalgalerie in Lwiw, einem der größten Museen des Landes, und hat dort die Schutzmaßnahmen dokumentiert. © Elena Subach

Stephan Dömpke sieht politiknahe Organisationen wie ALIPH, vor allem wenn sie über hohe finanzielle Mittel verfügen, von Natur aus eher kritisch. Sein unabhängiger Verein World Heritage Watch beschäftigt sich mit dem Zustand der Welterbestätten weltweit. „Unsere Kernaufgabe ist, der Unesco Informationen über den Zustand der Welterbestätten zu geben, die sie nicht aus den Regierungsberichten bekommen.“ Doch seit Kriegsausbruch beschäftigt sich Dömpke vor allem damit, Hilfe für die Not leidenden Museen und Kultureinrichtungen in der Ukraine zu organisieren. Von seinem Büro im denkmalgeschützten Nicolaihaus in Berlin-Mitte aus hat der 66-Jährige eine beeindruckende Hilfsaktion auf die Beine gestellt. Auf Facebook habe er gesehen, wie Kunstgegenstände unverpackt in Sicherheit gebracht worden seien. „Dort hieß es: Wir haben kein Verpackungsmaterial. Da habe ich mir gedacht, es gibt doch kein Museum, das nicht Verpackungsmaterial im Keller liegen hat. Die sollen das jetzt mal rausrücken.“ Um sich die Zeit zu sparen, die Museen einzeln anzuschreiben, hat er sich an die Presse gewandt. Die Süddeutsche Zeitung und tagesschau.de veröffentlichten seinen Aufruf, und eine Lawine der Hilfsbereitschaft kam ins Rollen. Gut 25 Museen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz öffneten ihre Lager, eine Logistikfirma stellte eine Halle am Stadtrand Berlins für die Aufbewahrung zur Verfügung, eine weitere Firma sammelte das Material aus den Museen ein, DB Cargo übernahm den Transport. Er habe eine Liste vom ukrainischen Kulturministerium bekommen, endlos lang, riesige Zahlen, erzählt Stephan Dömpke. „Die Museen hier haben mich gefragt: Was brauchen die denn? Da habe ich geantwortet: Die brauchen alles.“

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