Unterwegs auf den Rencontres d’Arles

Wir starten unsere Reise rasant im Museumsturm von Luma Arles, entdecken die feministische Avantgarde der 1970er Jahre in einer alten Lokhalle und bewegen uns auf den Spuren von Van Gogh im Hôtel-Dieu

1. Tag

„Bon courage!“ Die alte Dame, die neben mir neugierig in die Öffnung der Röhre späht, wünscht mir viel Glück. Dann geht es für mich abwärts. Rasant. Die Rutsche des Künstlers Carsten Höller im Museumsturm von Luma Arles ist eine wilde Kurvenfahrt über mehrere Stockwerke. Und vielleicht auch eine Art Metapher für das provenzalische Arles, das hinter jeder Biegung Überraschendes zu bieten hat, von römischen Bauten bis zu zeitgenössischen Attraktionen.

Alle Blicke zieht der von Frank Gehry für die Luma Foundation der Schweizer Milliardärin Maja Hoffmann entworfene Turm auf sich – schon weil er dank 11000 verbauter Stahlziegel das berühmte Licht der Region je nach Wetter unterschiedlich reflektiert. In der heißen Julisonne lassen sich die Arlésiens in fröhlichen Familienausflügen auf das Gelände locken, denn der Eintritt in den Turm und die Nebengebäude der LUMA Foundation ist für alle Besucher frei. Nicht wenige vertiefen sich in Cyprien Gailllards hypnotisch wirkenden 3D-Film „Nightlife“ im Kellergeschoss. Oder in die Malereien aus der Museumssammlung von Künstlerinnen und Künstlern wie Tacita Dean und Sigmar Polke, die unter dem Titel „The Impermanent Display II“ in der Hauptgalerie des Gehry-Gebäudes gezeigt werden. Fast noch sensationeller wirkt allerdings die Umgebung des Turms: Das öde Schottergelände einer ehemaligen Lokomotivenfabrik, über das man sonst in der Hochsaisonhitze schlich wie durch eine Wüste, hat der Landschaftsarchitekt Bas Smets in eine Oase verwandelt – mit vielen Bäumen, Gras, einem kühlenden Teich!

Ana Mendieta Untitled Rencontres d'Arles
Ana Mendietas „Untitled (Glass on Body Imprints)“ (1972) ist in der Ausstellung „Une avant-garde féministe des années 1970“ in der Mécanique Générale zu sehen. © Courtesy of The Estate of Ana Mendieta Collection, LLC / Galerie Lelong / VERBUND COLLECTION, Vienna.

Der Zeitgeist fegt über das Areal, wenn traditionell im Sommer das renommierte Fotofestival „Rencontres d’Arles“ eine der alten Lokhallen übernimmt: In der Mécanique Générale zeigt die Ausstellung „Une avant-garde féministe des années 1970“ über 200 Werke von 71 Künstlerinnen aus der Sammlung Verbund in Wien. Mit dabei sind Künstlerinnen wie Carolee Schneemann, Cindy Sherman und Annette Messager. Bis zum 25. September laufen zahlreiche Fotoschauen der „Rencontres“ in der Stadt.

Im Café du Parc zu Füßen von Gehrys Turm stärken wir uns mit Antipasti und Tramezzini. Dank eines wundervollen Bodenmosaiks der Künstlerin Kerstin Brätsch sieht sich hier auch das Auge satt. Danach verlassen wir Luma Arles gen Süden und besuchen das Gräberfeld Alycamps. Diese römische Nekropole ist heute mit ihren aufgereihten Steinsarkophagen unter alten Platanen und Zypressen der perfekte Ort für eine Nachmittagspromenade. Sie war auch Motiv für den Wahl-Arlésien Vincent van Gogh und seinem Malerfreund Paul Gauguin.

Wir laufen nun zurück Richtung Innenstadt, überqueren den Boulevard des Lices, wo sich samstags beim Wochenmarkt Berge reifer Tomaten und Melonen auftürmen. Am repräsentativen Place de la République bezaubern das elegante Rathaus, 1676 errichtet vom einheimischen Architekten Jacques Peytret als barockes Stadtpalais, und die romanische Kirche Saint-Trophime, deren figurenreiches Portal Christus als Pantokrator zeigt, der die Menschheit in Auserwählte und Verdammte scheidet. Im sehenswerten Kreuzgang des ehemaligen Klosters zeigt der südindische „Rencontres“- Teilnehmer Sathish Kumar scheinbar gewöhnliche Momente, die dem Fluss der Zeit entnommen sind und den Rhythmus des Alltagslebens in Südindien widerspiegeln.

Sathish Kumar Portrait Town Boy Rencontres d'Arles
Sathish Kumars „Portrait of a boy near my hometown“ aus der Serie „Town Boy“ im Kreuzgang des ehemaligen Klosters Saint-Trophime. © Courtesy of the artist

Pflanzen spielen bei der nächsten Station eine Rolle: Im Hôtel-Dieu, dem ehemaligen Krankenhaus der Stadt, malte 1889 der nervlich angeschlagene Vincent van Gogh zur Beruhigung die Blumen des Innenhofs. Die Bepflanzung wurde rekonstruiert, sodass man den idyllischen Hof als lebendiges Gemälde betreten kann.

Gleich zwei grandiose Ausstellungen präsentiert der Espace Van Gogh in diesem Kunstsommer: „Romain Urhausen and his time“ widmet sich den humorvollen Fotografien des luxemburgischen Künstlers Romain Urhausen. Sein einzigartiger Stil bewegt sich zwischen der französischen humanistischen Schule und der deutschen subjektiven Schule der 1950er- und 1960er-Jahre. Außerdem gibt es eine der intensivsten und produktivsten Perioden im Leben der amerikanischen Fotografin Lee Miller zu entdecken. Die Ausstellung beleuchtet ihre bewegte Karriere und ergänzt das Porträt einer Frau, die oft nur durch ihre Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Künstler Man Ray und ihre engen Beziehungen zu den Surrealisten in den 1920er Jahren in Erinnerung geblieben ist. Voller neuer Eindrücke beschließen wir also den Abend auf der Terrasse des Restaurants Au Brin de Thym mit Stiersteak aus der nahen Camargue. 

Lee Miller Hats, with original markings Rencontres
Lee Miller war Porträtistin, Leiterin eines eigenen Studios in New York, Mode- und Werbefotografin für Parfüm- und Kosmetikmarken und Kriegsfotografin. „Hats, Pidoux, with original markings“ entstand 1939 in London. © Lee Miller Archives, England, 2022

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