Absinth in der Kunstgeschichte

Wohl und Weh der grünen Fee

Absinth: geliebt, gehasst, getrunken. Viele Werke der Kunstgeschichte und der populären Grafik wissen nichts vom Genuss des Trinkens, sondern erzählen von Einsamkeit und Trostlosigkeit

Von Peter Dittmar
14.07.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen 12/22

Wir wissen nicht, ob er sich als Opfer, als Verführter fühlte. Oder ob ihn Glücksgefühle erfüllten, als ihn die „grüne Fee“ aus dieser Welt geleitete. Alfred de Musset soll der erste gewesen sein, der 1857 diesen Weg ging. „Salut, sœur de la Mort!“ hatte er seine „Ode à l’Absinthe“ überschrieben. Und der „Schwester des Todes“ rege zugesprochen, bis sie ihn tödlich umarmte. Der einzige war er nicht. Als Trinker und als Poet, der das Hohe Lied des Absinths sang. „Gift und Balsam“ nannte Jérôme Doucet den hochprozentigen Wermuth in seinem „Chanson de l’Absinthe“. Und Oscar Wilde, der dem modischen Getränk nicht aus dem Weg ging, notierte: „Nach dem ersten Glas sieht man die Dinge so, wie man sie gern sehen möchte. Nach dem zweiten sieht man Dinge, die es nicht gibt. Am Ende sieht man die Dinge so, wie sie sind, und das ist das Entsetzlichste, was geschehen kann.“ So erging es vielen seiner Zeitgenossen. Und nicht nur Poeten. Auch Künstlern jeglichen Couleurs. Er wurde von Flaneuren und Müßiggängern geschätzt und in den Cabarets besungen. Vor allem am Montmartre. Denn jenseits der Stadtgrenze von Paris waren nicht nur die Wohnungen, sondern auch der Schnaps billiger. Nicht zuletzt jene Sorte, auf deren Geschmack das Kriegsministerium die Soldaten in Algerien gebracht hatte. Weil Absinth angeblich gegen Ruhr, Typhus und Malaria half, wurde er seit 1830 – so wie die Seeleute Anspruch auf eine Portion Rum hatten – als Vorbeugungsmittel bei der Besetzung Algeriens an die Soldaten verteilt. Wohl in Erinnerung an diese Zeiten freut sich auf einem Plakat ein Zuave über eine Flasche „Absinthe Mugnier“.

Absinthe Robette Henri Privat-Livemon
Auf den Plakaten, die für Absinth werben, erscheinen immer wieder elegante, verführerische Frauen. Das populärste Beispiel ist die Werbung für „Absinthe Robette“ (1896) von Henri Privat-Livemont. © Wikimedia Commons

Damals änderten sich die Trinkgewohnheiten. Wein galt in Frankreich als Lebensmittel. Als natürlich. Man trank ihn zum Essen und danach. Branntweine waren dagegen kaum üblich. Das änderte sich nun. Klassenübergreifend. Absinth war der billige Trost der Armen und das Modegetränk der Bohème. Absinth tranken die Arbeiter zwischen Feierabend und Nach-Hause-Gehen genauso wie die wohlsituierten Bürger, die damit ihre abendlichen Vergnügen begannen. Einerseits wurde das Getränk als ein Genuss beworben, dessen sich auch eine Dame der besseren Gesellschaft nicht zu schämen brauchte. Andererseits entstanden Vereine jeglicher Spielart, die drastisch vor den Gefahren der „grünen Fee“ warnten, über die Paul Verlaine höchst ambivalent bemerkte, sie übe, wie die „Tugend, die man verlässt“, harte Vergeltung.

Trost und Tristesse, Euphorie und Verzweiflung, Glücks- und Genussmomente, Elend und Ekstase – alle diese Zustände, Gefühle, Stimmungen, Gemütsaufwallungen verspricht die „grüne Fee“. Da sind keine Zweifel erlaubt. So erscheint sie, so agiert sie, wenn sie in Bilder gebannt wird. Es ist ein eigenartiger Reigen voller Widersprüche, der sich unter dem Stichwort „Absinth“ den Augen darbietet. Und der die Sammler reizt. Gleich, ob sie sich der populären Grafik und der bunten Welt der Affichen zuwenden, die seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Frankreich originell für alles werben, was man eigentlich nicht braucht, oder der klassischen Malerei. Unwichtig ist auch, ob sie die Künstlerwelt des Fin de Siècle so sehen, wie sie Henri Murger in seinen Scènes de la vie de bohème geschildert hat – und wie ihnen dank Puccini und Leoncavallo ein ewiges Opern-Leben gewiss scheint: als Mythos vom Künstler, der arm, aber unabhängig als Freigeist seine Berufung lebt, und der, wenn der Ruhm auf sich warten lässt oder der Erfolg ihn aus der Bahn wirft, Trost im Absinth findet.

Albert-Henri Gantner Karikatur Guguss
In der Schweiz stand das Absinth-Verbot bereits seit der Volksbefragung von 1910 in der Verfassung. Das karikierte der Genfer Albert-Henri Gantner in der satirischen Zeitschrift „Guguss“. © Wikimedia Commons

Dazu gehört, dass auf den Plakaten, die für Absinth werben, immer wieder elegante, verführerische Frauen erscheinen. Bei Leonetto Cappiello nippt eine noch damenhaft zurückhaltend an dem Absinthglas, während ihr Gegenüber, ein fashionabler Herr, spöttisch-lüstern diesen Versuch betrachtet. Meist aber erheben typische Jugendstil-Schönheiten selbstbewusst und siegessicher ihr Glas. Das populärste Beispiel dieses Genres ist die Werbung für „Absinthe Robette“ (1896) von Henri Privat-Livemont mit einer schönen jungen Frau in einem durchsichtigen Tüllschleier als einziger Bekleidung, die ein typisch kelchförmiges Absinth-Glas, auf dem der Löffel mit dem Zuckerstück liegt, emporhält (und das fälschlich oft Mucha zugeschrieben wird). Und selbst eine Katze wusste, will man den Brüdern Morque glauben, den „Absinthe Bourgeois“ zu schätzen.

Allerdings war das hochprozentige Getränk alles andere als ein leichter Ermunterungstrunk. Weil er, abhängig von den Beigaben – Anis, Fenchel, Zitronenmelisse, Ysop und andere Kräuter – eine grünliche oder bläuliche Farbe hatte, wurde er „Grüne Fee“ oder „La Bleue“ genannt. Auf das Glas wurde ein Löffel gelegt – damals bereits häufig mit Werbeaufdrucken oder -prägungen der Brennereien versehen – auf dem ein oder zwei Stück Zucker lagen. Über diesen Zucker tropfte man Eiswasser aus einer Karaffe oder einer Fontäne, die einer Dröppelminna glich, jedoch mehrere Hähne hatte. Jede Sekunde ein Tropfen galt als die rechte Art. Dadurch durchzog die klare Flüssigkeit ein wolkenartiges Weiß. Das Mischungsverhältnis schwankte zwischen 1 : 3 und 1: 5. Da der Absinth jedoch gut 80 Prozent Alkohol enthielt, minderte das seine Wirkung nur bedingt.

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