Ihre spektakulären Performances vereinen die radikale Körperlichkeit des Wiener Aktionismus mit zeitgenössischem Feminismus: Mit der Choreografin Florentina Holzinger feiert die Avantgarde ein blutig-tosendes Comeback
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21.09.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 203
Als vor zwei Jahren „Tanz – Eine sylphidische Träumerei in Stunts“ zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, war das der Durchbruch für die in der Kunst- und Theaterwelt bislang wenig bekannte Florentina Holzinger. Auch im Kontext der bildenden Kunst wurde sie noch nicht wahrgenommen, obwohl es dafür einige Anlässe gegeben hätte. Auf Tanzfestivals, auch im internationalen Reigen, hatte sich die Wiener Choreografin indes einen Ruf erworben, in dem die Vokabeln radikal/extrem/kompromisslos einen Begeisterungsschauder ausdrücken sollten. Selbst von Porno-Chic und Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen Kitsch und Kunst war gelegentlich die Rede, vor allem bei den frühen Arbeiten, die sie noch zusammen mit dem niederländischen Partner Vincent Riebeek entwickelte, den sie beim Tanzstudium in Amsterdam kennengelernt hatte. Inzwischen ist Florentina Holzinger einer der am heißesten gehandelten Namen in der zeitgenössischen Tanzkunst. Ihre Basis hat sie an der Berliner Volksbühne, wo sich ihre Ästhetik im Kontext der dortigen Tradition entfalten kann und in neuen Zusammenhängen lesbar wird. Immerhin wirkten an dieser die Schauspielsparte sprengenden Bühne der politische Tanz-Berserker Johann Kresnik, die amerikanische Grenzgänger-Choreografin Meg Stuart und der immer wieder Joseph Beuys und diverse Happenings nachstellende Christoph Schlingensief in einer stets brodelnden Arena.
Einen wichtigen Referenzpunkt für die 1986 in Wien geborene Tänzerin und Choreografin dürfte jedoch eine Kunstbewegung aus ihrer Heimatstadt darstellen, der Wiener Aktionismus. Günter Brus, Rudolf Schwarzkogler, Hermann Nitsch und Otto Muehl radikalisierten in den 1960er-Jahren die von ihnen aufgegriffenen Ideen der Fluxus-Bewegung in einem Milieu, das politisch von der Rebellion der Studentenbewegung gegen den spezifisch österreichischen Nachkriegskonservatismus geprägt war und künstlerisch gegen eine erstarrte Moderne aufzubegehren trachtete. Die Kunst verlassen, lautete eines der Stichworte der Aktionisten, mit dem sie traditionelle Betätigungsfelder wie Malerei, Musik und Literatur zugunsten von spektakulären Auftritten und Manifesten hinter sich ließen.
Ihr auffälligstes künstlerisches Mittel war dabei der Einsatz des eigenen Körpers als Material und Medium. Selbstbemalungen, Nacktheit, Verstümmelungen und Körperausscheidungen wurden zumeist in rituellem Habitus vorgeführt. Die eingefleischte österreichische Beziehung zum Katholizismus mit seinen Opferbildern und Bußritualen ist dafür sicher heranzuziehen, doch noch wichtiger war der politische Aspekt der Aktionen mit ihrer Störung des gepflegten Menschenbilds 20 Jahre nach der Nazizeit. Bei „Der Staatsbürger Brus betrachtet seinen Körper“ aus dem Jahr 1968 formulierte der Titel der Aktion die beanspruchte Dimension gleich mit. Im selben Jahr kamen die Aktionisten ein letztes Mal für „Kunst und Revolution“ an der Wiener Universität zusammen, wo die als Tabubruch gemeinten Körperlichkeiten direkt mit der Bundeshymne und Staatsflagge verbunden waren. Es war das Ende dieser künstlerischen Gruppierung, auch weil einige Mitglieder anschließend vor Gericht gebracht wurden. Doch in der Nachwirkung zählen die Protagonisten des Wiener Aktionismus, die ja eigentlich kaum materiell bewahrbare Kunst hervorgebracht haben, zu den am meisten erinnerten Kunstgrößen der 1960er-Jahre.
Diese groteske Körperkonzeption, wie es die Kunstwissenschaft mit Blick auf den Wiener Aktionismus und in einem von Michail Bachtin geprägten Begriff mitunter bezeichnet, dürfte Florentina Holzinger von Anfang an interessiert haben. Nicht in erster Linie aus retrospektiver Sicht, sondern eher in aktuellen Fragestellungen für ihre eigenen Performances: Wie kann man den Körper heutzutage präsentieren, was kann er aushalten, was wird im Normalfall nicht gezeigt – und warum ist das so?
In „Tanz“ wurde das von den Konventionen des klassischen Balletts her aufgebaut. Die damals 77-jährige Beatrice Cordua, einst Star des legendären Hamburger John-Neumeier-Balletts, weist Elevinnen für entsprechende Übungen in die rigide Form ein. Dass die Spielregeln des klassischen Balletts mit seinen Tutus und Spreizsprüngen einem sexualisierten Blick im späten 19. Jahrhundert gehorchen, muss heute nicht mehr eigens erwähnt werden. Für Holzinger ist es ohnehin nur der erste Schritt, dem die Entkleidung zur Nacktheit folgt. Cordua, die in die Tanzgeschichte als die vermutlich erste nackte Ballerina eingegangen ist und bei der das damals unter dem Aspekt von „Nacktheit als Kostüm“ diskutiert wurde, führt das weibliche Ensemble in diese „Transparenz der Körper“, wie es Holzinger Jahrzehnte nach Provokation und Tabubruch nennt. In den letzten Teilen der Performance werden dann diese bis dahin abgesicherten Bilder des weiblichen Körpers auf der Bühne – ein früher Theoretiker aus dem 18. Jahrhundert sprach übrigens vom Ballett als „bewegtem Gemälde“ – aufs Spiel gesetzt. Beziehungsweise auf andere Art ins Spiel gebracht.