Das Bildnis von Elisabeth I. zeigte eine Herrscherin von zeitloser Macht – und zugleich das Ende einer Ära
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13.10.2022
Sie hält einen Regenbogen in der Hand. Als der Maler, es soll Marcus Gerards der Jüngere gewesen sein, Königin Elisabeth I. im Jahr 1602 porträtierte, war sie schon über sechzig, doch ihr Gesicht sieht aus wie das einer jungen Frau. Etwa ein Jahr später starb sie, da hatte ihre Flotte längst die große spanische Aramada geschlagen, Shakespeare seine Sonette und Theaterstücke geschrieben, da hatte sie ein Zeitalter begründet. Von den diversen Bildnissen, die von dieser bedeutendsten der englischen Regentinnen entstanden, ist das „Rainbow Portrait“ das im wahrsten Sinne zauberhafteste. Es zeigt eine Frau, die über der Zeit steht und über den Gezeiten. Das lose rote Haar gekrönt von einem fantasievollen, schmetterlingshaften Kopfschmuck, das Antlitz weiß und engelgleich, in der Hand das biblische Symbol des Bundes zwischen Mensch und Gott. Wie mächtig, wie entrückt, wie unendlich klug, wie geradezu außerirdisch muss diese Frau ihren Zeitgenossen erschienen sein. Ein Wesen, das so viel mehr ist und vermag als jeder ihrer Untertanen. Heute haben in den zivilisierten Ländern die Herrschenden viel von ihrem Glamour eingebüßt. Sie sind welche von uns, maximal Erste unter Gleichen und nur auf Zeit mit Macht bekleidet. Dennoch bleibt in schwierigen Zeiten wie den unseren die Sehnsucht, dass der Mensch, der die Geschicke leitet, mehr weiß und mehr kann als wir kleinen Einzelnen. Dass es Taten, Gedanken, Lösungen gibt, die unseren Horizont überschreiten. Dass wir keine Angst zu haben brauchen.
Übrigens: Marcus Gerards’ Porträt von Elisabeth I. ist bis 8. Januar in der Ausstellung „The Tudors“ im Metropolitan Museum in New York zu sehen.