Auktion bei Irene Lehr

Morbide Neue Sachlichkeit

Die Neue Sachlichkeit ist auf dem Kunstmarkt weiter sehr gefragt. Das Berliner Auktionshaus Irene Lehr versteigert nun Werke von Georg Scholz, Rudolf Schlichter und Karl Hubbuch

Von Ivo Kranzfelder
27.10.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen 17/22

Auf einem Tisch liegen zwei tote Hühner, sorgfältig gerupft, mit Füßen, beim vorderen sieht man auch noch den Kopf. Zumindest der hinten liegende Vogel ist schon ausgenommen, man blickt dem Tier direkt zwischen die Beine, wo sich eine längliche Öffnung auftut. Links unten im Bild, an der Tischkante, ragt die Spitze eines Messers in den Bildausschnitt, gleich daneben und über das Messer hängend, liegen die Gedärme des Huhns auf dem Tisch, umgeben von Blutflecken, die schon ins Holz des Tisches eingedrungen sind.

Am rechten Ausläufer des Darmgeschlings – in der unteren Bildmitte, direkt unter dem vorderen toten Tier – liegt auf dem Tisch eine Spirale aus glänzendem Metall und aus Eisen, wohl Teil eines Fleischwolfs. Über dem Kopf des Huhns, dem noch eine Halskrause aus Federn geblieben ist, befindet sich ein weiteres Teil dieser Maschine, daneben, angeschnitten, ein bis heute wohlbekanntes Fläschchen „Maggi“. An der hinteren Tischkante, nur der Vollständigkeit halber, sind weitere Blutflecken zu sehen. Der Raum, in dem der Tisch steht, ist in einem modifizierten Schachbrettmuster gefliest, hinten der Durchblick in einen anderen Raum mit Dielenboden, in der Ecke, als hinterstes Element des Bildes, ein Eimer. Das Ganze in gedämpften Ocker-Braun-Grün-Rot-Tönen, bis auf die Metallteile.

Georg Scholz malte dieses Bild, das Irene Lehr in der kommenden Auktion am 29. Oktober anbietet, in der naturalistischen beziehungsweise realistischen Manier der Neuen Sachlichkeit im Jahr 1926 für die „Internationale Kunstausstellung“ in Dresden. Zu dieser Zeit – um die Mitte des Jahrzehnts, etwa ab 1924 – hatten sich die politischen Turbulenzen der frühen Weimarer Republik etwas gelegt, die Schärfe der klassenkämpferischen Aktivitäten und künstlerischen Äußerungen nachgelassen.

Scholz hatte an der Badischen Landeskunstschule in Karlsruhe bei Hans Thoma und Wilhelm Trübner, bei dem er Meisterschüler war, studiert. Nach dem traumatischen Kriegsdienst wurde er Mitglied der Karlsruher Künstlergruppe „Rih“ (übersetzt „Wind“, bei Karl May Name des Rappen von Kara Ben Nemsi) um Rudolf Schlichter, über den er George Grosz kennenlernte und so mit anderen Dadaisten in Kontakt kam.

Nach eher futuristisch-expressionistischen Anfängen fabrizierte Scholz ätzende, sarkastische Schilderungen des provinziellen Lebens, aber auch der generellen gesellschaftlichen Situation. 1920 nahm er mit dem Bild „Industriebauern“ an der Internationalen Dada-Messe in der Kunsthandlung Otto Burchard in Berlin teil. Ein Exemplar der seltenen Lithografien (mit einigen abmildernden Änderungen) nach diesem Bild ist bei Irene Lehr mit einer Taxe von 5000 Euro versehen. Schon hier taucht ein Hühnchen auf, und zwar in gebratener Form im offen einzusehenden Bauch des durch ein Fenster wahrnehmbaren, draußen vorbeispazierenden Pfaffen. Die im Zimmer sitzende, cyborgartig deformierte Bauernfamilie ist mit weiteren Attributen versehen: ein Ferkel in der Hand der Bäuerin, eine Bibel vor der Brust des Bauern und ein auf dem Tisch liegender Frosch, den der missratene Sohn gerade mittels eines Strohhalms aufbläst, um ihn zum Platzen zu bringen. Die Darstellung funktioniert auch ohne die immer im Zusammenhang erzählte Geschichte, Scholz sei nach dem Ersten Weltkrieg bei einem Bauern beim Hamstern böse abgeblitzt, was ihn zu diesem Bild veranlasst habe.

Natürlich war Scholz, wie die Künstlerfreunde auch, zu dieser Zeit Kommunist, sogar mit Parteibuch. Seine bildlichen Beschreibungen der badischen Provinz, in der die Häuser aussehen wie Bauklötzchen oder Faller-Häuschen für die Modelleisenbahn (Faller ist ja tatsächlich im Schwarzwald ansässig, Märklin im württembergischen Göppingen), werden hoch gehandelt: Eine „Badische Kleinstadt bei Tage“ aus der Vogelperspektive von 1922 / 23 erzielte 2016 bei Christie’s in London 1 Million Pfund (Taxe 300.000 Pfund). Auffälligste Figur dort ist ein Metzger, der gerade ein Schwein, das hinter ihm aufgespannt ist wie eine Karikatur von Rembrandts geschlachtetem Ochsen, ausgeweidet hat. Das blutverschmierte Messer zwischen den Zähnen, drückt er gerade mit den Händen die Exkremente aus dem Schweinedarm, dessen Gekröse, ähnlich wie auf dem Hühnerbild, vor ihm auf dem Tisch liegt. Das nächtliche Pendant zu diesem Bild befindet sich übrigens im Kunstmuseum Basel.

Georg Scholz
„Der sentimentale Matrose“ wurde von Georg Scholz im Jahr 1921 zu Papier gebracht. © Irene Lehr, Berlin

Eine weitere Lithografie von Scholz aus dem Jahr 1921, die bei Lehr mit 3000 Euro geschätzt ist, zeigt einen „sentimentalen Matrosen“, der, während er auf einer Ziehharmonika spielt, an eine Prostituierte denkt, die in einer Blase (wie in einem Comic) zu sehen ist, wie sie sich auf einem Bett räkelt. Eine gewisse formale Verwandtschaft dieser Figur mit dem hinteren Hühnchen, zumindest in Teilen, ist nicht zu leugnen.

Drei weitere Lithos vervollständigen das Angebot mit Scholz-Arbeiten in der Auktion: einmal das bekannte Blatt mit Vater und Sohn, ausgemergelt, jeweils eine Zeitung unter dem Arm, im Hintergrund der fette, Zigarre rauchende Kapitalist mit Monokel im dicken Auto von 1921 / 23 (Taxe 3000 Euro); dann die Szene einer „Hinrichtung“ von 1921 (Taxe 2500 Euro); und schließlich ein frühes farbiges Werk von 1909: „Hinterhäuser bei Nacht“ (Taxe 1000 Euro). Die letztgenannte Szene mag man aufgrund der unheimlichen Beleuchtung schon als Hinweis auf die Sezierung der deutschen Provinz sehen, wie sie in vielen späteren Arbeiten zum Ausdruck kommt. Man will gar nicht wissen, was sich hinter den erleuchteten Fenstern verbirgt.

Ab etwa 1926, dem Jahr, in dem die „Toten Hühner“ entstanden, genauso wie Scholz’ bekanntes „Selbstbildnis vor der Litfasssäule“ – und auch George Grosz’ „Stützen der Gesellschaft“ –, verlor sich seine fantasievolle Bissigkeit, sein Sarkasmus, und er wandte sich einem Neoklassizismus im Stil der italienischen Novecento-Maler zu, insbesondere in seinen etwas sterilen Darstellungen weiblicher Akte.

Von den Karlsruher Kollegen hat Irene Lehr noch eines der eher seltenen Selbstbildnisse von Rudolf Schlichter im Programm (Taxe 20.000 Euro), 1925 in der beeindruckenden wilden Aquarelltechnik gemalt, die auch sein etwas späteres Selbstporträt als „Grünfressender Mann“ in der Berlinischen Galerie aufweist. Karl Hubbuch ist ebenfalls mit einem Aquarell, „Hilde vor dem Spiegel“, präsent, ausgeführt gegen Ende der Zwanzigerjahre (Taxe 15.000 Euro).

Karl Hubbuch
Karl Hubbuchs Aquarell „Hilde vor dem Spiegel“ soll 15.000 Euro einbringen. © Irene Lehr, Berlin

Eine andere Zielrichtung hatte zumindest in seiner Frühzeit Conrad Felixmüller, auch er Kommunist und in seiner Kunst ein aktiver und ernster Kämpfer für die Anliegen der Arbeiter. Schon 1920, im Alter von 23 Jahren, erhielt er den Sächsischen Staatspreis, der mit einem zweijährigen Studienaufenthalt in Rom verbunden war. Felixmüller fuhr stattdessen ins Ruhrgebiet, von wo auch das Motiv der Tuschezeichnung „Wintertag auf der Zeche“, entstanden 1922, stammt (Taxe 30.000 Euro). Die Zeichnung wurde 1937 beschlagnahmt und in der Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Lange vorher übrigens gab es eine kleine Anfrage im Reichstag wegen Scholz’ „Industriebauern“: Man vermutete eine Verhöhnung des Bauernstands.

Die höchste Taxe, nämlich 150.000 Euro, ist für ein Bild von Franz Radziwill veranschlagt. „Die Mole (Hafeneinfahrt mit der ‚Bremen‘)“ malte er 1930. Die „Bremen“ und ihr Schwesterschiff „Europa“, beide Inhaberinnen des begehrten Blauen Bandes für das schnellste Passagierschiff auf der Transatlantik-Route nach New York, waren Thema zweier Pendants. Als Vorlagen dienten jeweils Postkarten oder Pressefotos. Die Stadtsilhouette und das Blatt am Himmel sowie die Spiegelung einer Stadt im Wasser sind spätere Zutaten. Man hat diese, mit dem Dämonisch-Surrealen spielende Variante der Neuen Sachlichkeit als „Magischen Realismus“ bezeichnet.

Star der Auktion bleiben trotzdem Scholz’ extrem suggestive „Tote Hühner“. „New Sobriety“ heißt die Neue Sachlichkeit auf Englisch, und „Nüchternheit“ ist vielleicht manchmal die bessere Bezeichnung. Vor allem dann, wenn man sich, was vermutlich vom Maler auch beabsichtigt war, gedanklich eines der opulenten barocken Geflügelstillleben von – sagen wir – Frans Snyders daneben als Vergleich vorstellt. Dann wird klar, wie sich die Zeiten geändert haben. Wohin sich die Taxe von 100.000 Euro entwickelt, darf mit Spannung erwartet werden.

Service

AUKTION

Irene Lehr,

Auktion: 29. Oktober 2022

Vorbesichtigung: 17. bis 27. Oktober 2022

lehr-kunstauktionen.de

 

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