In New York versteigert Christie’s Kunst aus der Sammlung des Microsoft-Gründers Paul Allen. Zum ersten Mal verspricht eine Auktion einen Umsatz von mehr als einer Milliarde Dollar
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03.11.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 206
Wenn eine bedeutende Kunstsammlung unter den Hammer kommt, funkelt sie noch einmal im Prisma einer ganz speziellen Sammlerpersönlichkeit. Dann wird sie wieder in alle Winde verstreut, und jedes Objekt wird aus einem anderen Grund erworben, aufbewahrt oder geliebt und findet ein neues Zuhause über dem hell erleuchteten Esstisch eines Townhouses, an der Wand eines Museums, an Bord einer Jacht oder in der klimatisierten Dunkelkammer eines internationalen Freihafens.
Für Auktionshäuser können hochkarätige Sammlungen wie Leuchttürme sein, auch wenn sie manchmal mehr Prestige als Profit verheißen. Je heißer umkämpft sie sind, desto mehr überbieten sich die rivalisierenden Häuser mit günstigen Konditionen, und Marketing-Etats können in die Millionen gehen. Es gibt Versteigerungen, die selbst Kapitel der Kunstgeschichte sind: Christie’s Auktion der Kollektion von Yves Saint Laurent und Pierre Bergé 2009 im Grand Palais in Paris war ein Feuerwerk an Stil und Geschmack mit Rekordergebnissen für Matisse und Brâncuși ebenso wie für Eileen Grays „Dragons Chair“, der allein schon rund 22 Millionen Euro einspielte. 2018 versteigerte Christie’s in New York die Sammlung von Peggy und David Rockefeller – amerikanische Aristokratie – und setzte bis dahin unerreichte 835 Millionen Dollar um. Zuletzt fand bei Sotheby’s in New York die glamouröse Zwangsversteigerung zeitgenössischer Kunst aus dem Besitz des zerstrittenen Sammler-Ehepaars Macklowe statt. Mit Werken von Andy Warhol, Gerhard Richter und vielen anderen Stars erzielte sie die bisherige Höchstsumme von 922 Millionen Dollar.
In wenigen Tagen steht nun in New York die Sammlung des verstorbenen Unternehmers Paul Allen zum Verkauf, mit der Christie’s erstmals in der Geschichte des Kunstmarkts die Marke von 1 Milliarde Dollar knacken will. Die rund 150 Werke von Brueghel über Turner und die Impressionisten bis zu Jasper Johns und Louise Bourgeois könnten, so meinen Insider, sogar 1,2 Milliarden Dollar bringen. Theoretisch gibt es, der Natur der Auktion entsprechend, nach oben keine Grenzen, wenn nur zwei ausreichend vermögende Interessentinnen oder Interessenten mit genügend Ausdauer auf dasselbe Los bieten. Der gesamte Erlös soll Paul Allens Wünschen entsprechend wohltätigen Zwecken zugutekommen.
Geboren wurde Allen 1953 in Seattle im äußersten Nordwesten der USA als Sohn einer Lehrerin und eines Bibliothekars in ein kunstaffines Umfeld. Die Eltern sammelten Werke regionaler Künstlerinnen und Künstler aus dem Staat Washington und schätzten Keramik aus China und Japan. Schon als Junge interessierte sich Paul Allen für Musik und Kunst und hielt sich für einen anständigen Aquarellisten, und die Geschichte wäre vielleicht anders verlaufen, wenn seine Leidenschaft nicht vor allem für Computer gebrannt hätte. Ein Schulfoto 1970 zeigt ihn mit seinem Freund Bill Gates: zwei Nerds an großen Geräten, die Kinder von heute kaum als Computer erkennen würden. Nur fünf Jahre später gründeten die beiden die Firma Microsoft. Innerhalb weniger Jahre machte das größte Computer-Software-Unternehmen der Welt beide Männer zu Milliardären. Zum Zeitpunkt seines Todes im Jahr 2018 rangierte Paul Allen auf der Forbes-Liste der weltweit reichsten Personen mit einem Vermögen von mehr als 20 Milliarden Dollar auf Platz 44.
Mit diesem Puffer konnte er sammeln, was ihm gefiel, und das Beste vom Besten kaufen. Eine Inspiration war ihm dabei sein Freund David Geffen, der New Yorker Film- und Musikproduzent und einer der größten Kunstsammler der USA. „Es ist großartig, eine Pilgerreise in ein Museum zu machen“, meinte Allen einmal in einem Interview, „aber nach einer Weile fragt man sich, wie es wäre, mit solchen tollen Werken zu leben. David sagte zu mir: ‚Schau dir an, wie ich mit diesen Bildern um mich herum lebe.‘“ Das habe ihm gezeigt: „Wow, das ist möglich.“
Landschaften hatten es Allen angetan, weil er ein Faible für die Natur hatte, aber auch weil er sie als „Fenster in andere Realitäten“ sah. Für Gustav Klimts Gemälde „Birkenwald“, einst in der berühmten Wiener Sammlung von Adele und Ferdinand Bloch-Bauer, bezahlte er im Jahr 2006 mehr als 40 Millionen Dollar. Jetzt wird mehr als doppelt so viel dafür erwartet. Für Allen symbolisierte das Gemälde die „ewige Natur“, und er schätzte die Ruhe, die das Bild ausstrahlt. „Wenn man Malerei betrachtet, schaut man in ein anderes Land, in die Vorstellungskraft eines anderen Menschen. Man sieht, wie er die Welt sah.“ Wie ein Zoomobjektiv richtete Georgia O’Keeffe ihren Blick auf die Natur. Ihr Gemälde einer weißen Rose und blauen Rittersporns ist das größte Blumenbild der Künstlerin, das seit ihrem Rekord von 2014 auf den Auktionsmarkt kommt, betont Christie’s. Damals hatte das Crystal Bridges Museum 44 Millionen Dollar für ein Werk von ihr bewilligt.
Zusammen mit seiner jüngeren Schwester Jody Allen – Paul Allen war homosexuell und gründete keine eigene Familie – rief er Mitte der Achtzigerjahre die Firma Vulcan ins Leben, um vielfältige geschäftliche und philanthropische Unternehmungen zu verwalten. Seine Interessen reichten von der Raumfahrt – er finanzierte das erste bemannte Privatraumschiff – über Immobilien und Filmproduktion bis zur Unterwasserarchäologie. Er war Besitzer einer Jacht, eines Footballteams aus Seattle und eines Basketballteams aus Portland, er gründete Institute für Gehirnforschung, für künstliche Intelligenz und stiftete mehr als 2 Milliarden Dollar für wohltätige Zwecke, etwa für den Naturschutz und den Kampf gegen Ebola. Er spendierte seiner Heimatstadt das von Frank Gehry errichtete Museum of Pop Culture und bestückte die Flying Heritage Collection mit Flugzeugen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Gewissermaßen übersetzte er seine Affinität zur Technologie in einen Zugang zur Kunst: „Ich mag den Pointillismus oder die Nummernbilder von Jasper Johns, weil sie die Realität in ihre Komponenten zerlegen wie Bytes oder Zahlen“, so drückte er es aus. Die Kunst sei eine andere Art von Sprache. Das Betrachten von Malerei war, wie gedanklich auf Reisen zu gehen. Nach Venedig führt Turners skizzenhafte Ansicht der Palladio-Kirche „Il Redentore“ aus dem Jahr 1851 ebenso wie, eine Generation später, Édouard Manets stimmungsvolle Darstellung des Canal Grande, bei der man geradezu meint zu sehen, wie die Gondeln auf der Wasseroberfläche schaukeln. Mit Claude Monet reist man an einem rosa verhangenen Tag nach London – „Waterloo Bridge, soleil voilé“ –, mit einem pointillistischen Seestück von Paul Signac an einem sonnigen Morgen in die Bretagne – „Concarneau, calme du matin“ – und mit Paul Gauguin bis nach Tahiti. Die Tickets kosten jetzt jeweils zweistellige Millionenbeträge.