Eines der schönsten Geheimnisse von Paris liegt auf halber Strecke zwischen Versailles und Eiffelturm: Das Musée Albert Kahn nimmt uns mit auf eine Zeitreise – dank eines Mannes, der die ganze Welt bewahren wollte
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17.02.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Spezial 01/2023
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit begibt man sich in Paris, anders als man vielleicht meint, nicht in einen Buchladen, fragt nicht nach Marcel Proust, seinem Swann oder den Guermantes, sondern steigt an den Haltestellen Odéon oder Sèvres Babylone in die Metro-Linie Nummer zehn ein. Von dort aus lässt man sich bis zur Endstation Boulogne – Porte de Saint-Cloud fahren. Schon während der knapp dreißigminütigen Reise durch die dunklen Tunnel des siebten, fünfzehnten und sechzehnten Arrondissements wird man spüren, wie die Gegenwart, ihre Dichte, ihre Hektik, ihr Lärm, mit jeder Station sich weiter zu entfernen und mehr zu verblassen scheint. Die Wagons werden leerer, die Gesichter entspannter, am Ende schlendern die wenigen übrig gebliebenen Passagiere fast ausnahmslos mit langsamen, fast verträumten Schritten auf ein und dasselbe Ziel zu: das in diesem Jahr nach langen Renovierungsarbeiten wiedereröffnete Musée Albert Kahn, das Zuhause der weltweit größten Sammlung früher Farbfotografien, der sogenannten Archives de la Planète.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit begibt man sich in Paris, anders als man vielleicht meint, nicht in einen Buchladen, fragt nicht nach Marcel Proust, seinem Swann oder den Guermantes, sondern steigt an den Haltestellen Odéon oder Sèvres Babylone in die Metro-Linie Nummer zehn ein. Von dort aus lässt man sich bis zur Endstation Boulogne – Porte de Saint-Cloud fahren. Schon während der knapp dreißigminütigen Reise durch die dunklen Tunnel des siebten, fünfzehnten und sechzehnten Arrondissements wird man spüren, wie die Gegenwart, ihre Dichte, ihre Hektik, ihr Lärm, mit jeder Station sich weiter zu entfernen und mehr zu verblassen scheint. Die Wagons werden leerer, die Gesichter entspannter, am Ende schlendern die wenigen übrig gebliebenen Passagiere fast ausnahmslos mit langsamen, fast verträumten Schritten auf ein und dasselbe Ziel zu: das in diesem Jahr nach langen Renovierungsarbeiten wiedereröffnete Musée Albert Kahn, das Zuhause der weltweit größten Sammlung früher Farbfotografien, der sogenannten Archives de la Planète.
Man muss vorbereitet sein auf das, was einen in diesem vom japanischen Architekten Kengo Kuma entworfenen Glasbau erwartet: eine Bilderflut, eine Zeitreise in die Welt der 1910er- bis 1930er-Jahre. Auf einer fünfundvierzig Meter langen und drei Meter hohen schwarzen Wand leuchten hier in ihrer Originalgröße von neun mal zwölf Zentimetern knapp 2600 Autochrom-Fotografien und geben Einblicke in die Welt, wie sie einmal war: Man sieht Stadtansichten, Monumente, Kirchen, Marktszenen. Fladenbrote in Sarajevo, Granatäpfel auf Korfu, Kokosnüsse in Ceylon, Tomaten irgendwo in Italien. Man begegnet Reispflückern in Vietnam und Kartoffelsammlerinnen in Frankreich, Wasserträgern in China und Indien, verschleierten Frauen in Afghanistan und einer jungen Irin im traditionellen roten Gewand. Eine bourgeoise französische Kleinfamilie blickt zuversichtlich aus dem Bild, ein junger Offizier des Ersten Weltkriegs verfasst auf einer Holzkiste seine Korrespondenz, verwundete Soldaten desselben mörderischen Kriegs liegen in einem Lazarett, eine junge Krankenschwester versorgt sie, die Sonne scheint schräg durchs Fenster herein. Man ist fasziniert vom Ausdruck einer jungen Vietnamesin, die mit fast provokativem Gesichtsausdruck an einer berauschenden Betelnuss lutscht, ist gerührt von jungen Mädchen, die in Tunis stolz ihre bunten Gewänder vorführen, und beeindruckt von der Konzentration eines Mädchens in Algier, das seiner Webarbeit nachgeht.
Es sind Ansichten aus dem Alltagsleben, aber auch aus Museen. Griechische Statuen und prähistorische Stücke treffen auf Gemälde aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien, dem Louvre oder den Uffizien, die Pyramiden in Ägypten, Moscheen im Irak und Iran, es gibt Ansichten von Brücken, Bergen mit und ohne Schnee, Häuser aus Holz, Stein und Lehm. Es sind Bilder von Flüchtlingen aus Thessaloniki um 1912, aber auch vom bunten Treiben am Ufer des Ganges oder das eines einsamen Fischers irgendwo auf einem See in Schweden. Es sind große und kleine Momente des Lebens, solche, die laut sind und leise, die von geopolitischen Umbrüchen oder auch nur privaten Ereignissen erzählen, einer Geburt, einem Tod, einer Hochzeit. Sie zeugen davon, wie Menschsein, Gemeinschaftsein und das Bewohnen der Erde vor hundert Jahren aussah und funktionierte.
Dieses Museum sei eines der bestbehüteten Geheimnisse der Hauptstadt, so schrieb schon 1920 ein Journalist des Journal du Ciné-Club über diesen Ort, der damals in Wahrheit noch gar kein Museum war, und schwärmte von der „beeindruckenden Kilometerzahl an Filmmaterial“. Er bewunderte die hauptsächlich dokumentarischen Ansichten, diese soziologisch-anthropologisch anmutenden Studien, die den Alltag, das Leben, die Behausung, die Kleidung, die Riten und Gesten der Menschen in Frankreich, Asien, Osteuropa, Nordafrika und Amerika wiedergaben, lobte den ungewöhnlichen Park, der die Vegetation aus unterschiedlichen Ecken der Welt in einem harmonischen und zugleich eklektischen Nebeneinander vereinte und wies schließlich darauf hin, dass dieser Schatz am südwestlichen Rand von Paris auf die Großzügigkeit eines Mannes zurückzuführen sei: eines gewissen „Monsieur K…“ Auch bekannt als Albert Kahn.
Tatsächlich geht diese sagenhafte Sammlung, die insgesamt 183 Kilometer Schwarz-Weiß-Film, einige Farbfilmaufnahmen, 4000 Stereofotografien und 72 000 Autochrome umfasst, auf diesen Mann zurück. Einen jüdischen Banker, der um die Jahrhundertwende beschloss, sein gesamtes Vermögen in den wahnwitzigen Versuch zu stecken, das Antlitz der Welt festzuhalten, bevor sie für immer anders werden würde. Die Industrialisierung und der aufsteigende internationale Kapitalismus, die Standardisierung von Konsumgütern, neue Fortbewegungs- und Kommunikationsmittel, Elektrizität, zunehmende Landflucht und boomende Metropolen, der neue Platz der Frau im öffentlichen Raum, die wachsende Rolle der Medien und der Einfluss der Bilder, ein immer rasanteres Tempo hatten Kahn ahnen lassen, dass er sich nicht nur an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert, sondern zu einer neuen Welt befand. Die jüngsten technischen Errungenschaften dafür zu nutzen, seine Zeit und das Leben in ihr festzuhalten, so etwa lautete um 1912 Kahns Plan. Oder, um es mit den Worten seines Zeitgenossen, des Geografen Emmanuel de Margerie zu sagen: „Albert Kahn wollte, solange noch Zeit dazu war, etwas erschaffen, das er ›Archives de la Planète‹ nannte, eine Art fotografisches Inventar der Erdoberfläche, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Menschen bewohnt und bearbeitet wurde.“