Niki de Saint Phalle

Knalleffekt

Die Frau, die auf ihre Bilder schoss: Niki de Saint Phalle ist mit ihrer erstaunlichen Kunst aus fünf Jahrzehnten in der Frankfurter Schirn neu zu entdecken

Von Rose-Maria Gropp
21.02.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 210

So etwas hatte es bis dahin noch nie gegeben – und gab es seither nie mehr: Im Moderna Museet in Stockholm, unter der Leitung seines Direktors Pontus Hultén, lagerte im Jahr 1966 ein riesiger Frauenleib, 25 Meter lang, 9 Meter breit und 6,5 Meter hoch, betretbar zwischen den gespreizten Beinen durch einen Eingang, den die geöffnete Vulva bildete. Der Titel der monumentalen Skulptur lautete schlicht „„Hon“, im Schwedischen „sie“; seine Schöpferin nannte sie „en Katedral“. Erdacht hatte das gigantische Werk die französisch-amerikanische Künstlerin Niki de Saint Phalle. Hon ruhte auf einer Eisenkonstruktion, die mit Stoff überzogen wurde, den sie dann in knallbunten Farben bemalte. Im Inneren dieser schwangeren heidnischen Göttin installierten de Saint Phalles Helfer, die Künstler Jean Tinguely, der das Gerüst konzipiert hatte, und Per Olof Ultvedt ein Entertainment-Programm, mit einem Planetarium, einer Milchbar in der rechten Brust, einem kleinen Kino und – gefälschten – Gemälden von Paul Klee oder Jackson Pollock.

Gewiss war das Publikum jener Zeit noch um einiges konservativer. Doch Besucherinnen und Besucher strömten in Scharen herbei, die Künstlerin scheint recht behalten zu haben, wenn sie schreibt, dass „es nichts Pornografisches an Hon gab, auch wenn sie durch ihr Geschlechtsteil betreten wurde“. Nach der Schau wurde Hon zerstört, es existieren nurmehr eine filmische Dokumentation und Fotografien – und ein Modell für sie aus Maschendraht, Pappmaché und Farbe, das jetzt in der Niki de Saint Phalle-Ausstellung der Frankfurter Schirn zu sehen ist, als eine kleine Ahnung dieser singulären Überwältigung.

Es ließe sich Hon als eine Super-„Nana“ bezeichnen. Mitte der Sechziger hatte de Saint-Phalle die „Nana“ erfunden, die zur Gestalt ihres Lebens werden und sie als deren Schöpferin unverwechselbar machen sollte. Thematische Auslöserin für die Erfindung der Nana war ihre schwangere Freundin Clarice Rivers, die Frau des Künstlers Larry Rivers. Wie die weibliche Heerschar dieser Figurinen in ihrer Vielfalt ist auch ihr Name nicht eindeutig. „Nana“ kann im Französischen einfach für Mädchen stehen, vielleicht als Gören, auch für kleine Kätzchen. Ob für de Saint Phalle selbst ein Zusammenhang mit Émile Zolas Prostituierter gleichen Namens, der „blonden Venus“ aus dem 1880 erschienen Roman „Nana“ bestand, ist möglich. Das Bildungsbürgertum mag diese Anspielung jedenfalls mithören. In dem Dokumentarfilm „Niki de Saint Phalle – Wer ist das Monster, Du oder ich?“, den Peter Schamoni 1994 über sie drehte, wird de Saint Phalle zu Hon so zitiert: „Meine fröhlichen Nana-Frauen – diese war die größte Hure der Welt, sie hatte 100 000 Besucher in drei Monaten.“

Allerdings sind die Nanas alles andere als gefällig in ihrer Körperlichkeit, sie verhöhnen nachgerade die propagierten Proportionen. Aus Gips oder Polyester, lassen sie eher an archaische Göttinnen denken, mit ihren viel zu kleinen Köpfen ohne Gesichter gleichen sie in die Moderne versetzten Idolen der Frühzeit. Antoni Gaudí, der Architekt des spanischen Jugendstils, der Barcelonas Stadtbild mit seinen phantastischen Bauten möblierte, hätte sie nicht eigenwilliger modellieren und bemalen können. Dabei tänzeln sie trotz ihrer massiven Volumina auf ihren plumpen Füßchen, gerieren sich als Ballerinen, oder ihre Leiber ruhen, als Torsi, in sich. Die Nanas vor allem haben Niki de Saint Phalle zu einer Protagonistin der europäischen Pop-Art gemacht, es lässt sich da keine ebenbürtige Künstlerin ausmachen. Aber sie feierte nicht die abziehbildhaften Oberflächen der amerikanischen Pop-Art. Stattdessen nisten in den Nanas ihre Aufsässigkeit und die Auflehnung gegen Vorschriften und Konventionen. Und es ist gerade diese, jedenfalls an der Oberfläche, unbekümmerte Fülligkeit und offensive Buntheit, die den Nanas heute zu erneuerter Beliebtheit verhelfen in einem veränderten Bewusstsein. Denn de Saint Phalles ungenierte Puppen, die für sie vielleicht ein Antidot für ihre lebenslang schwierige seelische Verfassung waren, leisten den diskriminierenden Ausgrenzungen des Body-Shaming trotzigen Widerstand.

Niki des Saint Phalle wurde am 29. Oktober 1930 in dem eleganten Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine geboren. Ihr eigentlicher Name ist Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle. Ihre Mutter, die ihr den Namen „Niki“ gab, war die Amerikanerin Jeanne-Jacqueline Harper, ihr Vater, André Marie Fal de Saint Phalle, entstammte einem alten französischen Adelsgeschlecht und hatte sein Vermögen in der Weltwirtschaftskrise verloren. In New York, wohin die Familie übersiedelte, besuchte sie eine Klosterschule, wegen ihrer Verhaltensauffälligkeit musste sie mehrfach wechseln. Von 1948 an arbeitete sie als Fotomodell, im November 1952 erschien sie auf dem Titelbild der französischen „Vogue“.

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