Vittore Carpaccio in Venedig

Der Augenzeuge

Vittore Carpaccio erzählte in seinen Bildern detailverliebte Geschichten. Nun widmet Venedig seinem großen Renaissancemaler eine Schau

Von Petra Schaefer
20.03.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 210

Wie im Kino fühlt man sich vor diesem Bilderzyklus. Denn die neun riesigen Renaissancegemälde zum Leben der heiligen Ursula umfassen einen ganzen Saal in den Gallerie dell’Accademia in Venedig und hängen so tief, dass man förmlich in die Szenen aus der Pilgerreise der jungen Frau eintaucht. Die Werke aus den 1490er-Jahren katapultierten den Venezianer Vittore Carpaccio (um 1460/65 bis 1525/26) aus dem Nichts in die erste Liga neben Malergrößen wie Giovanni und Gentile Bellini. Lässt man den Blick umherschweifen, zieht einen das Schicksal der Prinzessin in den Bann, das Carpaccio mit Tiefenperspektive und raffiniertem Bildaufbau erzählt: Zunächst diktiert Ursula ihrem Vater, dem König der Bretagne, die Bedingungen, bevor sie in die Ehe einwilligt, dann schifft sie sich mit elftausend Jungfrauen Pilgerfahrt nach Rom ein, besucht dort den Papst, bis ihr im Traum der Märtyrertod prophezeit wird. In Köln, wo sie die Häscher erwarten, geht sie von Bord und schaut in einem Hain ihrem Mörder in die Augen, der seinen Pfeil auf ihre Brust richtet, während neben ihr schon die Köpfe ihrer Begleiterinnen rollen. Ursula wird aufgebahrt, zu Grabe geleitet und schließlich, umgeben von der Jungfrauenschar, vor Gottvater glorifiziert.

Carpaccio hat die tragische Geschichte der Königstochter prachtvoll ausgestattet, die Figuren tragen schimmernde Seidenkleider und Brokatgewänder, die ebenso wie die Haartracht der Mode des späten 15. Jahrhunderts in den italienischen Städten folgen. In seiner bühnenhaften Inszenierung verband der Maler Architekturelemente seiner Heimatstadt wie Arkaden, Treppen, Türme, Barkassen und Plätze fantasievoll mit Bildzitaten des illustrierten Reiseberichts aus dem Heiligen Land, den der Mainzer Bernhard von Breydenbach 1486 veröffentlicht hatte. Auf der groß angelegten Szene der Verabschiedung und Einschiffung ragen einige Türme der Hafenstadt Ancona auf, die Begegnung mit dem Papst in Rom findet vor der mächtigen Engelsburg statt. Und man entdeckt immer wieder Venezianisches, etwa einen aufwendig gestalteten Uhrturm, grandiose Paläste, Befestigungsarchitekturen, die an das Arsenale erinnern, und einen herrlichen Ausblick in die Lagune.

Vittore Carpaccio
Die Restaurierung der „Lesenden Jungfrau“ der Washingtoner National Gallery, gemalt um 1505, enthüllte links Teile eines Kindes. Carpaccio hat hier also die Muttergottes dargestellt. © Courtesy National Gallery of Art, Washington

In den akribisch dargestellten Innenräumen sieht man neben sorgfältig gestalteten Baldachinbetten, Lesepulten und Bücherregalen auch Kleinskulpturen aus Bronze und goldgerahmte, mit Kerzen beleuchtete Marienbilder. Die Kunsthistorikerin Patricia Fortini Brown prägte dafür den Begriff des „Augenzeugenstils“, und Carpaccio war der Meister dieser Bildstrategie. Dabei ging es ihm nicht darum, das städtische Umfeld und die Mode möglichst detailliert wiederzugeben, sondern er wollte das Bildthema, die Heiligenlegende, als etwas tatsächlich Geschehenes etablieren. Im frühesten Gemälde des Zyklus, der „Ankunft der heiligen Ursula in Köln“ von 1490, sucht man denn auch vergebens einen authentischen Hinweis auf die Domstadt oder typisch rheinische Figuren. Es genügte der filigrane, mit spitz zulaufenden Riffelungen gestaltete Harnisch eines Ritters im Bildvordergrund, um den damaligen Betrachtern zu vermitteln, dass sich das Geschehen in deutschen Gefilden abspielt.

Venedigs Kunstgeschichte ist ohne Carpaccio nicht denkbar. Darum ist es ein großes Ereignis, wenn ihn die Stadt jetzt im Dogenpalast – erstmals seit 1963 – mit einer Ausstellung seiner „Dipinti e disegni“ (Gemälde und Zeichnungen), so der Untertitel, feiert. Die Schau entstand in Zusammenarbeit mit der National Gallery in Washington und sorgte während der amerikanischen Station für Aufsehen und Bewunderung. Kaum fassen kann man, dass in Venedig genau zur Ausstellung der Ursula-Saal in der Accademia wegen Renovierung geschlossen und der zentrale Zyklus Carpaccios nicht erlebbar ist. Umso mehr richten sich alle Augen auf die Sensation in der kleinen Scuola di San Giorgio degli Schiavoni, im Castello-Viertel unweit des Arsenals gelegen. Im Oratorium der bis heute existierenden dalmatischen Laienbruderschaft ist nach einer Restaurierungskampagne der zwischen 1502 und 1507 entstandene Gemäldezyklus mit Szenen aus dem Leben Christi und diverser Heiliger wieder komplett zu sehen.

Vittore Carpaccio
Die herrlichdetailreiche „Vision des heiligen Augustinus“ von Vittore Carpaccio. © Matteo de Fina/courtesy National Gallery of Art Washington

Ein Höhepunkt unter den neun Bildern ist die enigmatische „Vision des heiligen Augustinus“, deren Bedeutung 1959 erstmals entschlüsselt wurde: In einem mit detaillierter Feinmalerei wiedergegebenen humanistischen Studiolo hält der Kirchenvater beim Schreiben eines Briefes an Hieronymus inne, als ein mystischer Lichtstrahl durch das Fenster ihm den soeben eingetretenen Tod des Gelehrten ankündigt. Vor fünfzig Jahren, bei der ersten umfangreichen Carpaccio-Ausstellung im Dogenpalast, erschien der gesamte Zyklus in einem kühl-modern gestalteten Ambiente; diesmal belässt man die Werke in der kleinen Scuola Dalmata, wo sie im Halbdunkel von Gebetsbänken aus betrachtet werden können.

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