Bild des Tages

Der Fährmann und das Zwischenreich

Engel, ein breiter Fluss, ein Fährmann und ein kleiner Mensch: Joachim Patinirs „Charon überquert den Styx“ zeigt den ewigen Moment zwischen Leben und Tod

Von Simone Sondermann
06.04.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 204

Für den Philosophen Martin Heidegger, der in manchem irrte, war der Tod das zentrale Ereignis des Daseins. Die gedanklich unmögliche Vorwegnahme des eigenen Endes sei das, was dem Menschen sein eigentliches Sein eröffne. Entschlossen müsse man sich dem Todesgedanken stellen, während die Angst die Grundbefindlichkeit eines jeden bleibe. Heideggers Exfreundin Hannah Arendt, die deutlich lebensnahere Denkerin, sah die Sache differenzierter und wies auf die Geburt als das Großereignis des Lebens hin. Dass dieses überhaupt und immer wieder neu entsteht, sei das eigentliche Wunder und gedanklich ebenso herausfordernd wie der unweigerliche Tod. Begriffe für das zu finden, was das Begreifbare überschreitet, sind eine Möglichkeit, über das Werden und Vergehen nachzusinnen, Bilder und Geschichten sind ein anderer. In der griechischen Mythologie bringt der Fährmann Charon die Seelen über den Fluss Styx ins Totenreich. Angst macht in dieser Geschichte vor allem die Tatsache, dass Charon die Fahrt verweigern könnte. Der Flame Joachim Patinir zeigt in seiner Landschaft (ausgestellt im Madrider Prado), entstanden in den letzten Jahren vor seinem Tod 1524, ein Menschlein, das es geschafft hat. Es ist auf dem Boot. Charon wirkt wenig furchteinflößend, mehr schützender Christophorus als düsterer Totenwächter. Welches Ufer er auch immer ansteuert, das offen stehende Höllentor oder das Ufer des Paradieses, es gibt auf Patinirs Bild keinen besseren Ort als den Fluss. Das ewige Dazwischen, das Sinnbild des Lebens.

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