Lange Zeit konnte Franz Erhard Walthers radikales Frühwerk in Fulda nicht gezeigt werden. Jetzt hat der Künstler ein Museum in seiner Geburtsstadt bekommen
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22.05.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 213
Nichthandeln ist für Franz Erhard Walther keine Option: Als er Anfang der Sechzigerjahre erstmals seine aus Stoff genähten Skulpturen zeigte, sollten diese angefasst und „aktiviert“ werden. Titel wie „Stirnstück“ (1963) oder „Beinstück“ (1964) implizierten, dass es noch ein Ganzes gibt, zu dem das Publikum seinen handelnden Teil beiträgt. Das Werk existiert nicht allein durch den Willen des Künstlers, sondern in Verbindung mit einer aktiven Rezeption – das war die neue, die radikale Idee. Wer später gern dem Startpunkt dieses Gedankensprungs nachspüren wollte, fand lange keinen rechten Ort dafür. Erst seit dem vergangenen Herbst gibt es endlich ein dauerhaftes Ausstellungshaus für die Werke Franz Ehrhard Walthers in der Stadt, die ihn geprägt hat: wo er 1939 geboren wurde und die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs miterlebte. Wo er als 19-jähriger Student einem jungen Kunstkreis beitrat und wo er 1963 in der Schneiderei seiner künftigen Schwiegereltern Stoffe als Material entdeckte. Eine Stadt, die er verließ, um anderswo Karriere zu machen. Und in die er vier Jahrzehnte später zurückkehrte. Wir sprechen von Fulda.
Das schlicht „Villa“ genannte Kooperationsprojekt der Stadt mit der Franz Erhard Walther Foundation ist ein gründerzeitliches Gebäude, das sehr hübsch am Fuße des Frauenbergs direkt hinter dem barocken Paulustor liegt. Zum Auftakt werden hier bis September in der „Ersten Werkpräsentation“ frühe Arbeiten des Künstlers gezeigt, thematisch arrangiert in acht Räumen und nicht jederzeit streng chronologisch. Die „Umrisszeichnungen“ etwa, die am Anfang der Entwicklung stehen, finden sich nicht im Hochparterre, sondern im ersten Stock: zwölf weiße Kartonuntergründe, auf die mit Bleistiftstrich jeweils eine Form gezogen wurde – zum Beispiel ein Rechteck mit konkaven Längsseiten, wobei die linke durch eine Sägeblattlinie akzentuiert ist. Die Interpretation dieser Formen ist offen.
„Schon in meinen Umrisszeichnungen, mit denen ich 1955 begann, war die Vorstellung der Teilnahme der Betrachter an der Werkbildung enthalten: Das Publikum soll die Binnenfelder der Zeichnungen imaginativ füllen – und somit auch handeln“, erzählt Walther bei einem Treffen in der Villa. „Später habe ich dann eigene oder gefundene Bleistiftzeichnungen – Landschaften, Porträts, Stillleben – ausradiert und nur Partien minimal stehen lassen mit der Vorstellung, dass die Betrachter das ergänzen oder sich ein eigenes Bild machen. Von diesen Arbeiten hat sich leider nur ein Blatt erhalten.“ Den Ursprung seiner ziemlich genialen Idee kann der Künstler heute nicht mehr bestimmen. „Ich habe oft darüber nachgedacht“, sagt er. „Es könnte sein, dass es mit Kriegserlebnissen zu tun hat: dass Gebäude, die vorher da waren und die ich mir eingeprägt hatte, plötzlich weg waren und später in ähnlicher oder anderer Form wieder neu errichtet wurden. Da müssen auch Imaginationen freigesetzt werden. Aber das ist eine unzulängliche Erklärung. Ich kann nicht genau sagen, woher es kommt.“
Fest steht, dass Walther sein Publikum bald zur handfesteren Teilnahme aufforderte: Noch zu seiner Zeit als Student an der Kunstakademie Düsseldorf entstanden ab 1963 erste Stoffobjekte seines berühmten 1. Werksatzes, die zum Gebrauch bestimmt sind. Objekt Nummer eins, das „Stirnstück“, diente dem Besucherkopf als gepolsterte Stütze an der Wand. Nummer fünf, die „Elfmeterbahn“ von 1964, konnten sich zwei einander zugewandte Akteure wie ein gemeinsames langes Lätzchen um die Hälse hängen. Erprobt wurde das auch in der Natur, etwa bei Streifzügen in die Hügel der Rhön. Neben einigen Objekten aus dem 1. Werksatz zeigt die Villa auch Dokumentationsfotos solcher Werkaktivierungen. Die Originale sind dagegen zu fragil und kostbar, um sie unbesorgt in die Hand nehmen zu können.
Wie hält man ein partizipatorisches Œuvre lebendig? Susanne Walther, die Ehefrau des Künstlers, Vorstandsvorsitzende der Stiftung und künstlerische Direktorin der Villa, denkt darüber nach, ob sie in künftigen Schauen benutzbare Ausstellungskopien einsetzt. Diese werden – genauso wie einst die Originale – von Johanna Walther, Textilingenieurin und Ex-Frau des Künstlers, hergestellt. „Aus Stiftungssicht sind Exhibition Copies ein elementarer Teil unserer Arbeit. Denn es muss auch in 100 Jahren noch die Möglichkeit geben, die Stücke aktivieren zu können“, erklärt Susanne Walther. „Dennoch gilt das nicht unbedingt für alle Arbeiten und auch nicht für alle Kontexte. Und es darf auch nicht Tür und Tor offen sein für eine beliebige Vervielfältigung. Das ist die Gratwanderung: Die Stiftung hat dafür zu sorgen, dass die Frage nach den Exhibition Copies sehr geschützt wird und dass deren Herstellung mit Präzision und sehr limitiert geschieht.“
Die Ausstellung in der Villa beweist, wie früh Walthers radikaler Werkbegriff neben Ablehnung auch einiges Interesse produzierte: „Lieber Jörg, du kannst gerne mit der Weste agieren“, liest man auf einer Zeichnung aus dem Jahr 1968, die den Westenträger als Sockel definiert. Der Maler Jörg Immendorff gehörte zu den Mitstreitern. Walther war damals schon nach New York gezogen. Ein guter Schachzug, weil er dort 1969 in einer Schau des Museums of Modern Art neben anderen angesagten Newcomern wie Dan Flavin oder Robert Morris gezeigt wurde. „Diese Ausstellung haben die meisten Künstler und Kritiker in New York gesehen. Auf einen Schlag war die Rezeption da“, erinnert sich Walther. Zwei Jahre später folgte der Ruf als Professor an die Hochschule für bildende Künste Hamburg, wo er bis 2005 unterrichtete. Den Austausch mit jüngeren Generationen setzt der 83-Jährige fort – nun auch in seinem Museum: „Bemerkenswert finde ich, dass die Fragestellung „Handlung bekommt Werkcharakter“ über Jahrzehnte interessant geblieben ist, bis heute“, sagt Walther. „Sie können das mit Menschen diskutieren, als ob es eine Gegenwartsfrage ist. Dabei kommt sie aus den Sechzigerjahren. Das ist wirklich erstaunlich.“
„Franz Erhard Walther: Erste Werkpräsentation“,
Villa, Fulda,
bis September