An seinem 90. Geburtstag zeigt sich der Wittelsbacher Herzog Franz von Bayern offen wie nie. Auf Schloss Nymphenburg spricht er über Freud und Leid seiner Kindheit, die Liebe zur zeitgenössischen Kunst und sein spätes Coming-out
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13.07.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 214
„Seine Königliche Hoheit kommt gleich.“ Den Mitarbeiterinnen auf Schloss Nymphenburg geht die Anrede so selbstverständlich über die Lippen, dass man versucht ist, eine gedankliche Übungsrunde zu drehen. Es dürfte holprig werden, so viel ist sicher. Doch bevor eine demokratisch vertretbare Sprachstrategie ausgetüftelt ist, hat Seine Hoheit auch schon den Empfangssalon mit einem herzlichen „Grüß Gott“ betreten. Heiter, neugierig, vom ersten Moment an konzentriert. Dass sein 90. Geburtstag bevorsteht, sieht man dem hochgewachsenen Mann nicht an. Und zwei Sätze weiter ist dann auch die Eingangsfrage geklärt. „Herzog Franz genügt“, sagt er beiläufig, so als würde es Wichtigeres zu bereden geben.
Da wären zum Beispiel die im Frühjahr erschienenen Memoiren, die in ausgiebigen Gesprächen mit der Historikerin Marita Krauss entstanden sind. Sie stecken ein erstaunlich reiches Leben ab, von einer nicht gerade königlichen Kindheit bis zu einem leidenschaftlichen Engagement, das München nicht zuletzt auch die Pinakothek der Moderne beschert hat. Ganz zu schweigen von den weniger medienwirksamen Hilfsprojekten in rumänischen Waisenhäusern oder Altenheimen. Diese Fülle scheint den Chef des Hauses Wittelsbach fast selbst zu überraschen. Aber da ist ja auch eine Familie, das heißt ein Hochadelsgeschlecht, das seit dem 12. Jahrhundert Pfalzgrafen, Herzöge, Kurfürsten und schließlich die Könige Bayerns gestellt hat. Über kuriose Umwege bestünden sogar Ansprüche auf den schottischen Thron. Das hat Franz Bonaventura Adalbert Maria von Bayern 1952 bei einer Abiturreise auf die Britischen Inseln die prüfenden Blicke betagter Stuart-Anhänger eingebracht. Vor der Wucht dieser Geschichte nimmt er sich möglicherweise selbst nicht gar so wichtig. Dabei sitzt der Herzog zwar als „Zuschauer“, aber immer „in der ersten Reihe“, wie es im Buchtitel steht. Niemand kommt auf die Idee zu fragen, ob er das überhaupt möchte; die Monarchie ist immerhin seit 1918 abgeschafft. Aber wenn Franz von Bayern auftaucht, wird sofort klar, dass die Veranstaltung keine gewöhnliche ist. Sie gewinnt sogar etwas Staatstragendes, so anachronistisch das klingen mag.
Im Schloss sitzt ihm die Dynastie sprichwörtlich im Nacken. Hoch über dem Biedermeiertisch prangt ein gereifter König Ludwig I. in typisch dunklem Lenbach-Fond. Der kunstsinnige Vorfahr hat das klassizistische Münchner Stadtbild zwischen Königsplatz und Siegestor geprägt. Schräg gegenüber lächelt die zeichnerisch begabte Prinzessin Marie Gabriele von der Wand. Wilhelm von Kaulbach hat der schönen Großmutter des Hausherrn mehr Farbe gegönnt. Ihr Seidenkleid in gebrochenem Zinnoberrot wirkt zwischen goldenen Bilderrahmen und zartgelben Lampenschirmen wie der blutige Wandstreifen auf Georg Baselitz’ „Orangenesser“. So weit ist das alles gar nicht auseinander. Man muss nur offen sein.
Das Wort kommt häufig vor in der Unterhaltung. Wer offen ist, dem öffnen sich viele Türen. So ist der einstige Prinz, der seit dem Tod des Vaters 1996 Herzog genannt wird, auch in die zeitgenössische Kunst „geschlittert“. Erst waren es Mitte der Fünfzigerjahre Zeichnungen von Alfred Kubin, die ihm ins Auge stachen. Dann ging es schnell weiter mit den deutschen Künstlern der Moderne wie Fritz Winter oder Ernst Wilhelm Nay. Beim Galeristen Günther Franke erstand er Papierarbeiten von Pierre Soulages, bei Otto Stangl Serge Poliakoff. „Ich stotterte die Bilder ab“, erzählt er, damals sei das der übliche Bezahlmodus gewesen.
Diese Auswahl war mutig, keine Frage. Großvater Rupprecht hatte dem Enkel noch die alten Meister nahegebracht, wollte ihm Dürers „Große Passion“ ins Jugendzimmer hängen. Da waren Soulages und Poliakoff ein gewaltiger Schritt in die Gegenwart. Doch dann seien zwei Herren in die Wohnung des Prinzen gekommen und bezeichneten das alles als Unsinn. Sie hatten ein „kleines Kofferl dabei mit einem dicken Pack Zeichnungen“, und schon erwarb der noch etwas unsichere Sammler die ersten Blätter von Joseph Beuys. 1962 war das.
Die etwas nassforsch auftretenden Vermittler hießen Heiner Friedrich und Franz Dahlem, und man sollte bald mehr miteinander zu schaffen haben in einer Stadt, die sich selbstgefällig die alten Zöpfe frisierte. Mit Beuys konnte der Herzog zunächst wenig anfangen, gibt er zu. Doch das sei der Einstieg in die junge deutsche Kunst gewesen. Man könnte sagen, die Lunte war entzündet. Denn nach den tiefen Eindrücken, die im selben Jahr die Documenta mit Künstlern wie Jackson Pollock oder Willem de Kooning bei ihm hinterlassen hatte, zog es den kunsthungrigen Volkswirt nach New York.
In München hatte er die ersten Amerikaner im Tabarin erlebt, einer Spelunke am Isartorplatz, in der GIs Jazz hörten und zwischendurch mit „sehr geschminkten Damen“ verschwanden. „Hock di unter die Bar, dass man di net sieht“, hieß es beim ersten Besuch – den hatte ein musikaffiner Taxifahrer angebahnt. Wenngleich der Prinz unterm Bartisch auch fürchterliche Schlägereien beobachten musste, eröffnete das Tabarin einen aufregenden neuen Kosmos: Selbst Superstars wie Ella Fitzgerald kamen nach einem Münchner Konzert vorbei, und statt mit einer kleinen Einlage Hello zu sagen, sang sie für die heimwehkranken US-Soldaten zwei Stunden nonstop.
Gegen das Tabarin war Andy Warhols Factory ein eher friedliches Großatelier mit Clubfunktion. Gefeiert wurde mindestens so heftig, genauso in den höheren Kunstsammlerkreisen um die Lehmans oder die Rockefellers, die dem höflich interessierten jungen Mann aus Deutschland bald Zutritt gewährten. Es ging von einer Vernissage zur nächsten und von einer Cocktailparty zum nächsten Dinner. Man kannte sich in Manhattans Kunstszene, tauschte die jüngsten Entdeckungen aus oder holte sich Rat bei Alfred Barr, dem Gründungsdirektor des Museum of Modern Art, mit seinem unbestechlichen Blick für Qualität.