In intimen Bildern hält Nan Goldin seit mehr als 50 Jahren ihr Leben und das ihrer Freunde fest. Unser Autor erinnert sich, dass auch er einst vor ihrer Kamera saß
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17.01.2024
Berlin, die Kunst-Stadt, meine große Liebe, ist auf Menschen erbaut, die es trotz ihrer Begabung, ihrer Arbeit, ihres fantastischen Stils nicht geschafft haben. Sie sind an Drogen, Aids, psychischen Problemen, oder ihren prekären Umständen gestorben. Man kann sich das wie bei den Erdschichten in einem Naturkundemuseum vorstellen. Man läuft, wie auch in New York, Paris oder Buenos Aires, über den Humus von diesen wunderbaren, kaputten, süchtigen Menschen, die den Städten ihr Leben, ihre Kunst, oft auch Demokratie eingehaucht haben. Alles, was heute, in diesen beschissenen Zeiten noch Mut macht, baut sich auf dem metaphorischen oder physischen Blutvergießen von jenen auf, die Häuser besetzt, Clubs, Bars, Pop-up-Galerien, Kinos gegründet haben. Von denen, die demonstriert haben, viel zu viel oder viel zu wenig liebten, bis zum Umfallen tanzten, meistens nur nachts rausgingen, mit Sonnenbrille einkauften, filmten, malten, promisken, hedonistischen Sex hatten, oder als Sex-Worker*innen arbeiteten. Auf dem Vermächtnis von Drag Queens, Club-Promotern, Performern, Transformern, Künstler*innen, Filmemacher*innen, Junkies, Superstars, mit Namen wie „Sugar Moon“ oder „Sunshine“.
Das war die Sorte von Leuten, die Nan Goldin fotografierte, als sie in den frühen 1980er-Jahren aus New York in Berlin ankam. Und deshalb hieß der Dokumentarfilm von Laura Poitras, der in Venedig den Goldenen Löwen gewann und Goldin vor zwei Jahren endgültig zu einer der berühmtesten Künstlerinnen der Welt machte „All the Beauty and the Bloodshed“ – nicht nur wegen all der Opfer der Opioid-Krise in den USA, der korrupten Sackler-Familie, die sie als Aktivistin mit der Gruppe PAIN bekämpft. Sondern auch wegen der Menschen, die Goldin verloren hat, die wir alle verloren haben.
Mein Freund Nikolaus Utermöhlen war einer dieser Menschen. Nan war mit Käthe Kruse und Wolfgang Müller befreundet, den Mitgliedern der Künstlergruppe „Die Tödliche Doris“, zu der er gehörte. Und zu Nicki, wie alle ihn nannten, der nie ein Wort sprach, der aber alle verführte, hatte sie einen guten Draht. Ich kannte Nan kaum. Ihrer Diashow „The Ballad of Sexual Dependency“ eilte ein ziemlicher Ruf voraus, sie sei in New York das nächste Ding, mit Ausstellungen in großen Museen. Man konnte damals die Leute nicht googeln. Obwohl sie noch nicht einmal zehn Jahre älter war als ich, war sie für mich eine andere Generation, mit ihrer Lockenmähne komischerweise so etwas wie eine Lady, eine Erwachsene, wie Gena Rowlands in „Faces“ von John Cassavetes oder die Seventies-Frauen in den Warhol-Filmen.
Sie fotografierte Nikolaus und mich 1984, ziemlich betrunken am Tresen des Damaschke Night Clubs, einer Wave-Bar, in der Nähe vom Adenauerplatz, in der sie „Hot on the Heels of Love“ von Throbbing Gristle und „Wake Me Up Before You Go- Go“ von Wham! spielten. Die Fotos von Nan Goldin sehen so intim aus, als wären sie beiläufig, unsichtbar aufgenommen. Aber in meiner Erinnerung war das ein aufregender Moment. Sie hatte eine große Kamera, saß da an der Ecke, blitzte und machte ziemlich viele Aufnahmen – so viele, dass man irgendwann nicht mehr darauf reagierte, aber noch unbewusst performte. Aus diesen Momenten destillierte Nan dann eines dieser Bilder heraus, auf denen ihre Subjekte immer schön und theatralisch aussehen, sich immer auch selbst inszenieren, aber dabei existenziell nackt sind. Auf diesem Foto sieht man die Natur unserer Beziehung, die fünfzehn Jahre, bis zu Nickis Tod 1996 dauern sollte, als er an den Folgen von Aids starb: die unglaubliche, auch zerstörerische Attraktion, die wir füreinander empfanden, meine Co-Abhängigkeit, seine Isolation, unsere Liebe. Nan schaffte das festzuhalten, wie in dem Velvet-Underground-Song „I’ll be your Mirror“, den sie bei ihren Diashows spielte.
Ihre „The Ballad of Sexual Dependency“-Shows waren ein mitreißendes Ereignis. Sie waren im Museum bestimmt gesitteter. Ich sah sie aber zum ersten Mal im „Frontkino“, in einer abgerockten Fabriketage in Kreuzberg. Die Technik bestand aus zwei Dia-Projektoren mit Karussells, die abwechselnd ausgetauscht wurden, einer provisorischen Leinwand, Lautsprechern. Der Soundtrack kam vom Kassettenrecorder, wobei die Leute zum Teil so laut johlten, dass man ihn kaum hören konnte. Jeder kannte die Stücke, ob „I put a Spell on You“ von Screamin‘ Jay Hawkins, die Brecht-Songs von Lotte Lenya oder „Don’t Make Me Over“ von Dionne Warwick. Niemand fragte damals nach Copyrights. Die Luft war voller Rauch, Alkoholausdünstungen, der Raum vollgestopft mit Körpern.