Holly Herndon und Mat Dryhurst sind visionäre Vordenker der Beziehung von Kunst und KI. Ein Gespräch über kreative Freiheit, dezentrale Individuen und die Geburt ihres Sohnes
Von
29.01.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 223
Ein weißes Ladenlokal in einer Seitenstraße in Berlin-Schöneberg: Hier treffen wir Holly Herndon und Mat Dryhurst. Sie haben dort ihr Studio und leben mit ihrem kleinen Sohn im selben Haus. Herndon wurde als Musikerin bekannt, die Computertechnik und Gesang zu einem Gesamtkunstwerk verbindet. Doch Holly Herndon ist auch der Name ihrer gemeinsamen künstlerischen Marke, der Brite und die Amerikanerin sind ein Duo. Sie arbeiten medienübergreifend an der visuellen Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz (KI), an radikal zukunftsweisenden Voice-Modellen oder an der Entwicklung von Software zur Stärkung von Künstlerrechten. Im Frühjahr werden sie in einer großen Online-Gruppenausstellung des New Yorker MoMA zu sehen sein, im Herbst widmet ihnen die Londoner Serpentine Gallery eine Soloschau.
Holly Herndon: Wir mögen „Künstler“ am liebsten. Es umschreibt am umfassendsten das, was wir tun. Aber ja, es ist kompliziert. Wir kommen von einem Musikhintergrund, wir haben ein Unternehmen, wir machen Lobbyarbeit. Aber ich glaube, Künstler ist ein Begriff für ein einzigartiges kulturelles Feld, in dem es möglich ist, verschiedene Bereiche abzudecken und zu experimentieren. Das erlauben andere „Titel“ so nicht. Wie empfindest du das, Mat?
Mat Dryhurst: Wenn du sagst, du bist Künstler oder Musiker, ist das normalerweise eine industrielle Definition. Dann heißt das im Fall der Kunst: Du warst an der Städelschule, würdest am liebsten mit der Galerie Esther Schipper arbeiten, möchtest Skulpturen an den Sammler XY verkaufen. (lacht) Das ist die eine Definition von Künstler. Die andere ist: Du lässt Dinge in der Welt geschehen. So verstehen wir uns.
HH: Und die Threads …
HH: Ja, die Threads sind konsistent. Die Arbeit unserer Firma etwa ist ganz auf einer Linie mit dem, was wir demnächst in der Serpentine Gallery machen werden. Es ist nur ein unterschiedlicher Zugang.
HH: Ich bin seit Jahren mit Hans Ulrich Obrist, dem Kurator der Serpentine Gallery, in Kontakt. Wir haben schon verschiedene Projekte zusammen gemacht. Ich finde, er ist ein brillanter Kopf. Wir beschäftigen uns ja schon lange mit KI und betrachten das Machine-Learning-Modell als ein Kunstwerk.
HH: Das Wichtigste für uns sind die Trainingsdaten: die Frage, wo sie herkommen, und die Möglichkeit, Kunst damit zu schaffen. Die Erstellung von Trainingsdaten ist eine Performance, eine genuin menschliche Aktivität, die anspruchsvoll ist, wenn etwas Interessantes entstehen soll. Es geht auch um die Frage, welche Trainingsdaten wir in die Zukunft senden wollen. Hinzu kommt der Aspekt, wie die Öffentlichkeit mit dem KI-Modell interagieren kann. Ein Modell ist einzigartig, es entstehen neue Erwartungen daran als ein Medium. Und ein Modell ist generativ, das heißt, es kann endlos Arbeiten produzieren, auch das ist eine neue Herausforderung. Das alles hat uns bei der Idee, ein Machine-Learning-Modell in einer Kunstinstitution auszustellen, beschäftigt.
MD: Serpentine betreibt das Projekt „Future Art Ecosystems“, mit dem Team dahinter arbeiten wir eng zusammen. Es geht um die Frage, was es für eine Institution bedeutet, wenn sich alles so schnell verändert. Teil der Idee zu der Ausstellung ist, dass wir eine Infrastruktur aufbauen, die über die Ausstellung hinaus weiterbesteht. Das hängt mit der Arbeit für Spawning, unserer Firma, zusammen und mit unserem Projekt Holly+. Es wird aber auch Kunstwerke geben, Dinge, die man anfassen kann. (lacht)