Kafkas Erzählungen und Romane zählen zum Kanon der Weltliteratur – und inspirieren Filme und Comics. Er selbst durfte das nicht mehr erleben. Am 3. Juni 1924 starb Kafka mit 40 Jahren an Tuberkulose
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29.05.2024
Wenn Franz Kafka heute durch sein Prag laufen würde, käme er aus dem Staunen nicht mehr heraus: Da fährt eine Straßenbahn, verziert mit Zitaten aus seinen Texten. Dort dreht sich eine elf Meter hohe, tonnenschwere Skulptur seines Kopfes. In einer Galerie läuft eine Ausstellung namens „Kafkaesk“. Und in den Buchhandlungen der tschechischen Hauptstadt kaufen Touristen seine Bücher in allen Weltsprachen.
Als Kafka vor 100 Jahren, am 3. Juni 1924, in einem Sanatorium in Kierling bei Wien starb, war er vom Weltruhm weit entfernt. Seine Romanfragmente „Der Prozess“, „Das Schloss“ und „Der Verschollene“ waren unveröffentlicht geblieben. Dass wir diese Werke heute bewundern können, haben wir einzig Kafkas engem Freund Max Brod zu verdanken. Er ignorierte den letzten Willen des Schriftsteller-Kollegen, alles restlos zu verbrennen.
Anlässlich des 100. Todestags ist Kafka in Fernsehen, Kino und Theater so präsent wie lange nicht mehr. „Kafka wäre schockiert, wenn er miterleben könnte, was im Moment passiert“, sagte sein Biograf Reiner Stach vor wenigen Tagen auf der Prager Buchmesse. Kafka habe sich am Ende seines Lebens als einen gescheiterten Schriftsteller betrachtet, weil er viele Fragmente hinterlassen und keinen seiner Romane zu Ende geführt habe. „Wenn er das jetzt erleben würde, das würde seine Bilanz völlig auf den Kopf stellen“, sagte Stach.
Kafkas Hauptwerk „Der Prozess“ beginnt mit einem der berühmtesten ersten Sätze der Weltliteratur: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Gleich von Anfang an wird der Leser hineingezogen in eine rätselhafte Justizwelt. Warum wird Josef K. verhaftet? Warum darf er trotzdem zur Arbeit ins Büro gehen? Doch statt wie ein Kriminalroman auf eine Auflösung zu setzen, wird hier alles mit jeder Seite noch merkwürdiger – bis hin zur Hinrichtung in einem Steinbruch.
„Der Prozess“ ist zum 100. Todesjahr in einer neuen kommentierten Ausgabe erschienen, herausgegeben vom Kafka-Experten Stach. Dieser hält sich an Originalschreibweisen wie „verläumdet“ statt „verleumdet“. Und er erklärt Begriffe, die uns heute fremd erscheinen, wie Kleiderkasten für Kleiderschrank. Er geht auf religiöse und psychologische Deutungen des Textes ein – nur um zu dem Schluss zu kommen, dass sich die Suche nach dem „einzig passenden Schlüssel zu diesem Roman“ als Irrweg erwiesen habe.
Hinter der düsteren Fassade der Texte verbirgt sich bei Kafka oft ein beißender Humor. „War er eine Frohnatur?“, wurde sein Wegbegleiter Max Brod einmal in einem Fernsehinterview gefragt. „Das ist zu viel gesagt! Er war nicht so depressiv, wie er heute gesehen wird, aber Frohnatur kann man ihn nicht nennen“, lautete die subtile Antwort. Es ist nur eine von vielen Szenen, die der Illustrator Nicolas Mahler mit scharfen Strichen in seiner Comic-Biografie „Komplett Kafka“ wiedergibt, die im November im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.
„Durch seine herausragende Beobachtungsgabe und seine Fähigkeit, Dinge aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen, gibt es in seinen Schriften viele komische Momente“, sagt Mahler. Sein Ziel sei es gewesen, die humoristischen Elemente bei Kafka herauszuarbeiten, ohne eine Parodie zu produzieren. Entgegen kam Mahler, dass Kafka ein weniger bekanntes Talent besaß: „Kafkas Zeichnungen habe ich lange studiert und in meine eigenen Zeichnungen einfließen lassen.“
Von der Resonanz seiner Comic-Biografie ist der Wiener Grafiker überrascht: „Ich wusste zwar, dass Kafka ein sehr berühmter Autor ist, dass er aber zum Beispiel im arabischen Raum so populär ist, war mir neu“, sagt Mahler. „Vielleicht liegt es daran, dass er so wenig Konkretes beschreibt und dadurch universell lesbar ist“, mutmaßt der Wiener Künstler.
Von Kafkas Geburtshaus unweit des Prager Altstädter Rings ist heute nur noch das Eingangsportal erhalten, das beim Wiederaufbau nach einem Brand Verwendung fand. Die deutsch-jüdischen Eltern des Schriftstellers betrieben ein Kurzwarengeschäft und kämpften für den sozialen Aufstieg. Auf Kafka lag die Bürde des einzigen Sohnes, der Jura studierte und später in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen arbeitete. Nur die Freizeit – und oft ganze Nächte – widmete Kafka seiner eigentlichen Passion, dem Schreiben.
Es ist die Tragik seines Lebens, dass der ewige Junggeselle erst kurz vor seinem Tod im Alter von nur 40 Jahren die Frau fand, die wirklich zu ihm zu passen schien. Es war Dora Diamant, die Kafka in einem jüdischen Ferienlager in Graal-Müritz kennenlernte. Sie stammte aus der Gegend um Lodz – und die Welt der orthodoxen Ostjuden faszinierte Kafka. Dora hat den unheilbar an Tuberkulose Erkrankten in seinen letzten Wochen in Kierling begleitet.
Die Kehlkopftuberkulose machte das Schlucken am Ende schmerzhaft und fast ganz unmöglich. Dennoch arbeitete Kafka noch am Tag vor seinem Tod an der Korrektur der Druckfahnen für seine Erzählung „Der Hungerkünstler“. Ein „grausames Paradox“ nennt Stach das in seiner Kafka-Biografie: „die Geschichte eines Menschen, der nicht mehr essen will, aufgezeichnet von einem Menschen, der nicht mehr essen kann.“ (Michael Heitmann, dpa)