Vilhelm Hammershøi

Ida allein zu Haus

Bei Vilhelm Hammershøi berühren sich Zeit und Ewigkeit: Seine privaten Interieurs werden so zu Spiegelbildern der ganzen Welt. Eine Ausstellung in der neuen Galerie Hauser & Wirth in Basel zeigt jetzt unbekannte Meisterwerke des großen dänischen Malers

Von Florian Illies
12.06.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 227

Was macht Vilhelm Hammershøi zu einem solch eminent zeitgenössischen Künstler? Er war nur Gast in seiner Zeit um 1900: Wie ein Abgesandter aus der Zukunft hat er in seinen Bildern seine Gegenwart immer bereits als eine Vergangenheit erinnert. Ja, seine Bilder speisen sich aus Erfahrungen der Moderne, also des 20. und des 21. Jahrhunderts, die sie eigentlich noch gar nicht gemacht haben können. Genau dieses geheime Wissen aus einer Zeit, die erst lange nach Hammershøis Tod beginnen wird, macht seine Bilder zu so notwendigen Bestandteilen unserer verunsicherten Gegenwart. Eine Ausstellung in Basel, mit der die Galerie Hauser & Wirth im Juni ihre neue Dependance im dortigen Luftgässlein eröffnet, präsentiert nun über ein Dutzend meist unbekannter Meisterwerke Hammershøis aus Privatbesitz, ein ästhetisches Labsal für alle, die es Mitte des Monats zur Art Basel in die Schweiz zieht.

Was Vilhelm Hammershøi im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert malte, war grundlegend neu. Ja, er war viel gereist durch ganz Europa, er hatte gesehen, was James McNeill Whistler in England schuf und was Eugène Carrière und Pierre Puvis de Chavannes in Paris erdachten. Dennoch baute er aus der Kenntnis dieser Meister des Dunstes und der Uneindeutigkeit ein Œeuvre von größter Eigenständigkeit.

Ein radikaler Verweigerer der Moderne

Die Beschleunigung ist das große Thema der Moderne, ihr geheimer Motor, ihre größte Kraft. Man kann das 20. Jahrhundert nicht ohne sie denken. Gerade um 1900 reißt sie alles mit sich – die Menschen, die Emotionen, die Gewissheiten, die Ideologien, die Staaten. Und am Ende auch die Utopien. Doch Hammershøi verweigert sich diesem Sog wie kein zweiter. Die Zeit rast, die Welt gerät aus den Fugen, und der Maler verharrt. Geboren 1864 und gestorben 1916, deckt seine Lebensspanne die vielleicht radikalste Periode ab, die die Kunst der Neuzeit erlebt hat. Hammershøi antwortet darauf jedoch mit einer radikalen Verweigerung: Wenn um ihn herum Tempo aufgenommen wird, drückt er auf die Bremse, wenn der Farbrausch der Expressionisten auf der Leinwand beginnt, dann malt er weiter in Weiß und Grau, und wenn die Natur erobert wird, dann bleibt er zu Hause. Hammershøi malt weiter seine Innenräume aus und in Kopenhagen, ganz gleich, ob sich um ihn herum der Symbolismus, der Neo-Impressionismus, der Jugendstil, der Expressionismus, der Kubismus oder der Futurismus als Ausdruck seiner Zeit etablieren. Hammershøi sieht das alles, aber er sieht eben auch, dass sein Weg ein anderer ist. Diese Widerstandskraft, diese singuläre Resilienz gegenüber dem Lauf der Zeit schenkt seinen Bildern ihre innere Kraft. Die anderen mögen die Welt malen, er malt seine Frau und seine Kommoden.

Das Außerordentliche dieses Malers erschließt sich erst mit unserem heutigen Blick auf die Kunstgeschichte nach seinem Tod. Er nahm die Atmosphäre der rätselhaften Interieurs von René Magritte genauso vorweg wie die gemeißelten Rückenansichten Oskar Schlemmers. Auch die Magie der Verlorenheit auf den Bildern von Edward Hopper scheint sich aus seinen Werken abzuleiten, selbst wenn sie ihn alle kaum kennen konnten.

„Hammershøi erahnte unsere Sehnsüchte, lange bevor sie entstanden sind“

So hielt also Hammershøi in seiner Kunst die Zeit an, bis in dem langen Jahrhundert danach die Zeit eine neue Kunst erschuf, die er schon längst zuvor geträumt hatte. Ja, Hammershøi erahnte unsere Sehnsüchte, lange bevor sie entstanden sind. Gerade, weil seine Bilder Bilder über das Verbergen sind, also zeitlose Erzählungen über das Unsagbare, sagen sie uns so viel in unserer geheimnislosen Zeit. Eigentlich bedeutet Zeitgenossenschaft, dass es einen geteilten Erfahrungsraum gibt, ein gemeinsames Erleben und ein gemeinsames Lebensgefühl. Sie beschreibt eine Verwandtschaft innerhalb einer synchronen Zeit. Hammershøis Bilder zeigen jedoch: Vielleicht lassen sich geteilte Erfahrungen auch als ein Lebensgefühl über die Zeiten hinweg erzählen. Als ein Erahnen und Erinnern, das von einem Wissen kaum noch zu unterscheiden ist. Ein Mann malt seine Frau in ihrer gemeinsamen Wohnung – seit den Erlebnissen der Coronapandemie und des Lockdowns haben diese Bilder der bewussten Beschränkung eine neue Aktualität und Relevanz gewonnen.

Kein Künstler dringt aus eigener Kraft aus den Tiefen der Verdrängung an die Oberfläche einer anderen Zeit, eines anderen Jahrhunderts: Das Wiederentdecken ist kein Zufall, sondern eine bewusste Handlung aus der jeweiligen Gegenwart heraus. Wir entdecken also nur wieder, was unsere aktuellen Bedürfnisse erfüllt; das, worin wir unser Heute und unsere Sehnsüchte wiedererkennen; das, worin unsere Zeit schon enthalten ist. Wir projizieren durch das Wiederentdecken die Vergangenheit auf unsere Gegenwart. Das Präsens, in dem Hammershøi seine großen Fragen so still wie beharrlich an seine Zeit stellt – die Frage nach dem Geheimnis hinter allem, die Frage nach der Stellung der Frau, dem Überleben der Menschheit, dem Zwischenreich zwischen Traum und Wirklichkeit und dem Sog der Melancholie der Innerlichkeit –, das ist die in seine Vergangenheit eingeschriebene Gegenwart.

Hammershøis großes Vorbild war Jan Vermeer, vor allem das Bild „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ (um 1657 – 1659). Die angehaltene Luft von Vermeers Interieurs, die aufgeladene Atmosphäre der Räume, diese stille Energie der Delfter Malerei des 17. Jahrhunderts, das war genau die geheimnisvolle Aura, die Hammershøi in seine Gegenwart transportieren wollte.

Kräftige Farben und markante Formen haben ihn nicht interessiert

Es gibt eine laute Geschichte der Kunst, also Künstler, die mit ihren Farben und Gesten und Kompositionen auf die Pauke hauen – Peter Paul Rubens etwa, Caravaggio, Francisco de Goya, Eugène Delacroix, Pablo Picasso. Das hat Hammershøi nicht interessiert. Er steht in der langen Reihe der stillen Geschichte der Kunst, die bei Cimabue begonnen hat und in der italienischen Malerei des Quattrocento, Piero della Francesca vor allem. Die sich bei Chardin fortsetzte, bei Pieter de Hooch und bei Vermeer besonders, und die dann von Hammershøi aus weitergehen wird zu den intensiven und doch zurückhaltenden Gefügen Piet Mondrians und Giorgio Morandis. Was kann man wissen? Was kann man sehen? Kann Malerei mehr sein als die Verbreitung einer visuellen Information? Das sind die großen Fragen dieser stillen Malerei – und Hammershøi stellt sie in jedem seiner Bilder aufs Neue.

Aber anders als Vermeer, bei dem die vereinzelten Gestalten durch subtile metaphorische und symbolische Anspielungen im Interieur aufgeladen und herausgefordert werden, steckt Hammershøi sie in Ausnüchterungszellen. Als sollten sie auch noch ihre letzten Emotionen und Zeitbezüge verlieren. Seine Frau Ida versetzt er in seinen Bildern in eine Art Hypnose, eine Trance. Und irgendwann beginnen scheinbar nicht nur die Gedanken seiner Frau, sondern auch die Möbel und Räume selbst sich in einen Zustand der Ungreifbarkeit zu verwandeln. In einen Traum.

Vielfalt im Rahmen des häufig Gleichen: Ida Hammershøi posierte für zahlreiche Bilder ihres Mannes – so auch für „Frau vor einem Spiegel“
Vielfalt im Rahmen des häufig Gleichen: Ida Hammershøi posierte für zahlreiche Bilder ihres Mannes – so auch für „Frau vor einem Spiegel“. © Courtesy Private Collection / Hauser & Wirth Basel

In der Strandgade 30 in Kopenhagen, in die er 1898 mit seiner Frau Ida einzog, baute er sich ein Heim der Zeitlosigkeit. Er widersetzte sich dem vollgestopften Zeitgeschmack der braunen Holzvertäfelung und schweren Möblierung und baute sich Stuben des holländischen siebzehnten Jahrhunderts nach. Er ließ alles hell und grau streichen und wählte Möbel aus der Zeit des Biedermeiers, die gerade aus der Mode gekommen waren. Er baute sich eine vollkommen abgeschlossene Raumkapsel inmitten einer vorwärtsstürmenden Moderne. Hammershøis Kunst war wie die Vermeers zu seiner Zeit auf eine geradezu aggressive Weise regressiv. Genau deshalb erscheint sie uns nun auf eine so subtile Weise progressiv.

Ein Leben in Abgeschiedenheit

Hammershøis Leben war so still wie seine Kunst. Er studierte, heiratete und zog in eine Wohnung. Die malte er. Dann zog er in eine andere Wohnung. Die malte er auch. Er hatte keine Kinder, er kämpfte in keinem Krieg. Er saß oft stundenlang in seinem Stuhl und blickte auf die Wand. Er kannte jedes Details der Kommode und des Klaviers. Jeden Luftzug. Manchmal ging er auf Reisen – viel häufiger, als man zunächst denkt: Er war in Paris, in London, in Berlin, in Rom. Aber all das, was er dort sah und erlebte, scheint er von sich zu weisen und mit einer entschiedenen Geste außen vor zu lassen, wenn er vor der Staffelei in der Strandgade 30 sitzt, wenn er in sich hineinschaut und seine Frau durch die Räume schwebt. Daraus erzeugt er in seiner Kunst eine Atmosphäre maximaler Verdichtung. Konzentration. Stille. Hammershøi lädt seine Interieurs auf mit all dem, was er weglässt: Sie sind Widerstandsakte gegen die Zudringlichkeiten der Welt. Diese Kraft haben sie bis heute behalten.

In den Bildern von Hammershøi steht die Zeit und die Luft. Die Welt hält kurz ihren Atem an – und auch die Figuren verstummen, die in diesen Bildern stehen oder durch sie wandeln, seine Frau Ida vor allem. Es fällt kein Wort. Stattdessen: Andacht, Wundern, Ergriffensein. Es dauert nicht lange, und Hammershøis Stille legt sich auch über unsere unruhigen Augen. Und wir lassen uns betören von der unendlichen Sehnsucht und Wehmut, die wie ein eigenartiges Licht aus allen Dämmerungen seiner Bilder herausstrahlt.

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