Gunta Stölzl und Arieh Sharon waren ein unkonventionelles Paar, in der Arbeit wie im Leben. Die Geschichte der Meisterweberin und des Architekten aus Palästina erzählt vom Glanz des Bauhauses – und von seinen Schattenseiten
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02.08.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 152
Dem Neuanfang wohnte wenig Zauber inne. „Dessau ist eine abscheuliche Stadt und nur die Gewohnheit wird es mit sich bringen, dass man es hier aushält.“ Fast sechs Monate waren nun schon vergangen, seit das Bauhaus im Frühling 1925 Weimar verlassen musste, doch noch immer war Gunta Stölzl mit der neuen Umgebung nicht warm geworden. In einem Brief an ihren Bruder beklagte sie sich bitterlich über die Industriestadt in Anhalt. In Dessau hatte sie endlich eine Anstellung als Werkmeisterin, im männerdominierten Bauhaus ein Privileg. Doch selbst darüber kam keine rechte Freude auf. „So ein richtiger Beruf ist langweilig, das Leben kommt dabei zu kurz. Ich komme mir schon wie ein stilisierter Bürger vor …“
Gunta Stölzl war ein Mensch, der sich nicht leicht zufriedengab. Dafür war sie zu „selbstständig“, zu „mutig“, zu „zukunftsorientiert“. Diese Worte kommen ihrer Tochter Monika Stadler in den Sinn, wenn sie an ihre Mutter denkt. Stölzl wurde 1897 als Tochter eines Schulrektors in München geboren und war von Jugend an voller Tatendrang. Als eine der Ersten besuchte sie das Münchner Mädchengymnasium. Ihre nächste Station, die von Richard Riemerschmid geleitete Kunstgewerbeschule, verließ sie zwei Jahre später trotz exzellenter Leistungen kurz vor dem Abschluss. Denn sie hatte neue Ideen im Kopf, die Vision einer Einheit von Kunst und Handwerk, wie sie Walter Gropius im Bauhaus-Manifest aufgezeigt hatte. Noch im Gründungsjahr der Bauhaus-Schule wurde Stölzl in Weimar angenommen und belegte den Vorkurs des Malers Johannes Itten. Mit Begeisterung stürzte sie sich in die Arbeit, versuchte sich in der Wandmalerei und genoss die rauschenden Feste der vom Aufbruch beseelten Bauhaus-Gemeinde. In ihr Tagebuch schreibt sie damals: „Der zweite Abend war ein richtig toller Rausch, tanzend und johlend zogen wir durch Weimar und dann in unseren Speiseraum, ganz toll vor Lust und Freude am Leben, am Tanzen, am Unsinn, ich weiß nicht an was, es war einfach Stimmung da.“
Der libertäre Geist hat das Bauhaus berühmt gemacht. Doch die Freiheit hatte auch ihre Grenzen, und die verliefen zwischen den Geschlechtern. Immer mehr junge Menschen strömten ans Bauhaus, und dass darunter viele Frauen waren, wurde den Verantwortlichen, allen voran dem Direktor Walter Gropius, schnell unheimlich. Man behalf sich damit, die Frauen zu separieren. „Die Studentinnen wurden in die Frauenklasse abgeschoben“, erzählt Yael Aloni, Gunta Stölzls ältere Tochter, die in Tel Aviv lebt. „In dem Raum für die Frauen standen die Webstühle, und dann haben sie halt alle gewebt, die Mädchen.“ Weberei für die Frauen, Architektur, Wandmalerei, Tischlerei und alles andere für die Männer. Im Kontext der damaligen Zeit betrachtet, waren die kreativen Möglichkeiten der Bauhäuslerinnen dennoch groß. Stölzl und ihre Kolleginnen wurden nicht nur von Itten, sondern auch Paul Klee und Wassily Kandinsky unterrichtet, deren Farb- und Formensprache Stölzl später kongenial in ihr textiles Œuvre übersetzte und weiterentwickelte.
Schon in der Weimarer Zeit wurde die energiegeladene Münchnerin schnell zur Leitfigur in der Frauenklasse. „Sie nannten sie die Web-Mama“, sagt Yael Aloni. Künstlerisch herausragende Werke wie den „Schlitzgobelin Rot-Grün“ oder den technisch hochkomplexen Jacquard-Wandbehang „Fünf Chöre“ hat Gunta Stölzl ab 1925 in Dessau geschaffen. Sie war dort nicht nur zur Werkmeisterin, sondern auch zur Leiterin der Weberei aufgestiegen, als einzige Frau in dieser Position am Bauhaus. In dieser Rolle trug sie auf dem Gebiet der industriellen Produktion wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg des Bauhauses bei. Die Kunsthistorikerin Ingrid Radewaldt betont in ihrer gerade erschienenen Stölzl-Biografie, dass die Weberei die ertragreichste Sektion an der Moderne-Schule war.
Im Jahr 1928 ging eine Ära zu Ende, der Gründungsdirektor Walter Gropius trat zurück, um sich wieder eigenen Bauprojekten zu widmen. Dieses Jahr sollte für Gunta Stölzl ein schicksalhaftes werden. Sie unternahm mit zwei Kommilitonen eine Studienreise zum Moskauer Architektenkongress und verliebte sich. Als sie nach Dessau zurückkehrte, war sie schwanger.
Der neue Mann ihres Herzens hieß Arieh Sharon und stammte aus dem galizischen Jaroslau, nahe der heutigen polnisch-ukrainischen Grenze. Mit zwanzig Jahren war er 1920 nach Palästina ausgewandert. Der begeisterte Zionist wurde Mitbegründer eines Kibbuz, beschäftigte sich mit der Imkerei und sammelte erste Erfahrungen im Bau einfacher Häuser. Er entschied sich, zum Studieren zurück nach Europa zu gehen, und bewarb sich 1926 am Dessauer Bauhaus, wo sich seine herausragende Begabung für die Architektur schnell zeigte. Nach nur zwei Jahren Studium und in dem Jahr, in dem er und Gunta Stölzl ein Paar wurden, übertrug ihm der neue Direktor Hannes Meyer die Position des leitenden Architekten beim Bau der Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) in Bernau bei Berlin, ein Prestigeobjekt.
Im Sommer 1929 heirateten die beiden Bauhäusler. Gunta Stölzl hatte nicht gerade auf einen Trauschein gedrängt, sie fürchtete sich nicht vor einem Leben jenseits der bürgerlichen Normen, wie Briefe zeigen, die Ingrid Radewaldt zitiert. Viel mehr Sorge bereitete ihr, dass sie mit der Heirat ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlor und nun wie Sharon den Sonderstatus des Britischen Mandatsgebiets Palästina erhielt. Eine berechtigte Sorge, wie sich zeigen sollte.