Vor 100 Jahren verfasste André Breton sein surrealistisches Manifest und begründete eine künstlerische Bewegung. Ihre Highlights zeigt das Centre Pompidou in Paris nun in einer fantastischen Ausstellung
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05.09.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 229
Die Tür steht offen, eine Frau fasst den Knauf mit ihrer linken Hand und blickt erwartungsvoll, aber auch leicht zweifelnd aus dem Bild. Denn statt wie erwartet in ein Zimmer schaut man in eine Flucht von immer neuen, halb geöffneten Türen: ein endloser Korridor, der direkt in die Tiefen des Unterbewussten führt. Seine Malerin, die 1910 in Illinois geborene Dorothea Tanning, gilt als herausragende Vertreterin des Surrealismus. Und für diese künstlerische Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts ist ein Haus nie nur ein Haus und ein Flur kein bloßer Flur, sondern stets auch Symbol eines psychischen Zustands.
„Birthday“, Tannings Selbstporträt von 1942, enthält so viele unerklärliche Details – ihre entblößte Brust, einen aus Wurzeln geflochtenen Überrock und jenen kleinen Dämon im Vordergrund –, dass sich das Motiv unmöglich eindeutig interpretieren lässt. Das geflügelte Wesen könnte ein Inkubus sein, eine mythologische Gestalt, die Albträume verursacht und Sex mit schlafenden Frauen hat. Das Gemälde enthält somit alles für den Surrealismus Elementare: latente Erotik, dunkle Traumbilder und unkontrollierbare Zustände jenseits von Logik und Vernunft.
Es ist ein Schlüsselbild aus dem Arsenal einer Künstlerin, die erst seit einiger Zeit wieder angemessen gewürdigt wird. Nun tourt das Werk aus dem Philadelphia Museum of Art durch Europa, im Centre Pompidou schmückt es nun die herausragende Ausstellung „Surrealism. The centenary exhibition“. Premiere hatte sie schon im Frühling in Brüssel, und von Paris aus werden die meisten Werke 2025 nach Madrid und schließlich in die Hamburger Kunsthalle reisen. Dabei verschiebt sich der Fokus jeder Schau, die Institutionen legen ihren jeweiligen Schwerpunkt auf die surrealistische Szene im eigenen Land, zeigen Vorgänger und den Einfluss auf spätere Künstlerinnen und Künstler. Im Zentrum steht jedoch immer das von André Breton vor exakt einem Jahrhundert verfasste „Manifeste du surréalisme“.
Der französische Dichter gab der einflussreichen Strömung einen intellektuellen Rahmen, zudem entstand in der Pariser Rue de Grenelle ein „Büro für surrealistische Forschungen“, in dem etwa Traumprotokolle gesammelt wurden. Wirkliche Einsichten in die menschliche Psyche und ihre Antriebskräfte ließen sich, so die Überzeugung der Surrealisten, in einer ebenso rationalisierten wie entzauberten, nach dem Ersten Weltkrieg seltsam selbstvergessenen Welt nur gewinnen, wenn die Vernunft ausgeschaltet war. In seinem Manifest lobte Breton die „Schonungslosigkeit“ der Fantasie und glaubte an eine „künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität“. Sein originales Manuskript, das sonst von der Bibliotheque Nationale de Paris gehütet wird, bildet den Kern der Schau, im Centre Pompidou sogar wörtlich: Hier ist die Ausstellung wie ein Labyrinth konzipiert, Bretons Schriftstück verbirgt sich tief in seinem Innern.
Die darum gruppierte Kunst gliedert sich Saal für Saal in 14 Kapitel mit Überschriften wie „Chimären“, „Hymnen an die Nacht“ oder „Politische Monster“. Trotz ihrer Vorliebe für die menschlichen Innenwelten, die dank Sigmund Freud in den 1920er-Jahren zugleich populär und wissenschaftliches Forschungsgebiet wurden, verfolgten zahlreiche Surrealisten die gesellschaftlichen Entwicklungen. Viele fühlten sich dem Kommunismus verbunden, kritisierten die koloniale Politik vor allem Frankreichs und kommentierten malend den aufkeimenden Faschismus in Europa. Beispielhaft hängt „Der Hausengel“ (1937) von Max Ernst in der Ausstellung: ein entfesseltes Ungeheuer, das verwüstet, was ihm unter die monströsen Füße gerät. Der rheinische Maler, der 1922 nach Paris zog und sich den Surrealisten anschloss, verstand seinen zerstörerischen Engel als Reaktion auf den Spanischen Bürgerkrieg.
Neben Dorothea Tanning – sie war ab 1946 mit Ernst verheiratet – positionieren sich in der Ausstellung weitere, teils lange unterschätzte Malerinnen wie Suzanne van Damme, Leonora Carrington, Remedios Varo oder die Britin Grace Pailthorpe, die als Chirurgin arbeitete und außerdem selbst psychologische Studien betrieb. Überhaupt fällt auf, dass viele Surrealisten parallel in diversen Disziplinen aktiv waren. Breton studierte Medizin, verfasste Gedichte und arbeitete zeitweise in einer psychiatrischen Anstalt. Außerdem gab er zusammen mit Freunden Zeitschriften wie „La Révolution surréaliste“ heraus. Tanning entwarf Bühnenbilder, schrieb für den New Yorker und später Bücher. Allein die britische Malerin Ithell Colquhoun musste sich entscheiden – ihr Interesse am Okkulten und an praktizierter Alchemie ging den Surrealisten zu weit, 1940 brach sie mit den Mitgliedern der Bewegung. Im Übrigen aber profitierte die Kunst von den erweiternden Perspektiven solcher Doppelbegabungen, und so widmet sich die Ausstellung immer wieder dialogischen Prinzipien: Sie integriert literarische Dokumente ebenso wie Fotografien von Man Ray oder Dora Maar, die während der Dreißigerjahre fest im Kreis der Pariser Surrealisten um Breton verankert waren.
Anderes erklärt seine Präsenz im Centre Pompidou nicht unbedingt auf den ersten Blick. „Das Lied der Liebe“ etwa, ein rätselhaftes Gemälde von Giorgio de Chirico aus der Sammlung des New Yorker MoMA, entstand 1914 und damit zehn Jahre vor Bretons Manifest. De Chirico gilt als Begründer der Pittura metafisica, einer kurzlebigen autonomen Bewegung in Italien, die sich dem Transzendenten verschrieb. Dennoch beeinflusste der Maler mit seinen frühen Motiven die Surrealisten und besonders den 1898 geborenen belgischen Künstler René Magritte. Ihn brachte „Das Lied der Liebe“ mit seinen antiken Fragmenten und dem überdimensionalen Handschuh in einer entleerten Stadtarchitektur angeblich von allen abstrakten Tendenzen ab und lenkte ihn auf einen neuen malerischen Weg.
Magritte, den die Brüsseler Ausstellung zu einem zentralen Protagonisten erklärte, tritt im Centre Pompidou zugunsten der französischen Avantgarde zurück. Dennoch demonstrieren seine Gemälde auch in Paris, wie ein Maler die Realität auf den Kopf stellen kann, ohne sie ganz zu verlassen. „Die persönlichen Werte“, ein geradezu magisches Interieur von 1952, versammelt alltägliche Gegenstände in einem Zimmer mit Aussicht auf einen Wölkchenhimmel, der wie tapeziert wirkt. Ein schlichter Kamm, das grünliche Weinglas, ein Streichholz und ein Seifenstück sind nicht länger Accessoires des Mieters, sondern derart überdimensioniert, dass sie zu den wahren Bewohnern der Unterkunft werden. Hat es sich der Kamm nicht schon auf dem Bett seines Besitzers bequem gemacht?
Verfremdung ist Magrittes liebstes Mittel. Es fällt nicht schwer, seine surreale Komposition auch mit Blick auf den Bildtitel als Kritik am modernen Leben zu deuten, das dem Konsum eine Priorität über das Leben einräumt. Für Träume und die Triebkräfte des Unbewussten interessierte sich Magritte weit weniger als die französischen Kollegen, denen er sich dennoch ab 1927 für einige Jahre verbunden fühlte, bevor er Paris verließ und zurück nach Brüssel zog.
Das Centre Pompidou biete Platz für „viele Spielarten der Moderne“, meint der Kurator Didier Ottinger. Er knüpft den Faden bis in die Gegenwart, zeigt neben Malerei von Jackson Pollock auch Filmmaterial von David Lynch aus den 1980er-Jahren. Surrealismus versteht Ottinger als kreative Geisteshaltung, Irrationalität als Möglichkeit alternativer Wahrnehmung, deren Anziehungskraft bis nach Mexiko, in die USA oder Japan reicht, wo sich der 1928 geborene Künstler Tatsuo Ikeda inspirieren ließ. Für diese Kraft hat Dorothea Tanning mit „Birthday“ ein ideales Bild gefunden: Das Surreale entgrenzt den Horizont und öffnet neue Türen, hinter denen sich bislang Ungeahntes, Ungesehenes verbirgt.