Wie sich die Funktion des Kinderporträts zwischen Barock und Romantik veränderte, zeigt eine Schau der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau
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08.10.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 232
Mit dem Durchschreiten des Tores betritt man eine vergangene Zeit: 1780 wurde der nach englischem Vorbild gestaltete Landschaftspark Georgium von Prinz Johann Georg von Anhalt-Dessau in Auftrag gegeben. Dieses verträumte Stück Natur liegt heute am Stadtrand von Dessau zwischen Bauhaus-Campus und Elbufer. Während man an einem ionischen Rundtempel vorbeispaziert und schließlich zum sogenannten Fremdenhaus gelangt, in dem der Prinz seine Gäste nächtigen ließ, fällt der Gedanke an erholsame Sommertage oder den gelegentlichen Smalltalk im Pavillon zur Zeit der Aufklärung nicht schwer.
In dieser idyllischen Anlage verbirgt sich das Schloss Georgium. Der klassizistische Bau mit angrenzendem Blumengartenhaus und der gegenüberliegenden Orangerie wurde nach Plänen des Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff erbaut und diente ursprünglich als Landhaus der Erholung des Prinzen. Heute beherbergt es mit der Anhaltischen Gemäldegalerie eine der wichtigsten Sammlungen alter Meister in Mitteldeutschland. Seit 1959 lassen sich hier Werke von altdeutschen, niederländischen und flämischen Meistern des späten 15. bis frühen 19. Jahrhunderts bewundern, die dank der Sammelleidenschaft von Henriette Amalie von Anhalt-Dessau (1720–1793) ihren Weg nach Dessau fanden, nachdem die Prinzessin 1792 vor der Besetzung Frankfurts durch die französischen Truppen geflohen war. In diesem Herbst rückt außerdem in der ehemaligen Orangerie die eindrückliche Sonderausstellung „Kindsköpfe – Kinderporträts vom Barock bis zur Romantik“ die Kleinsten der Gesellschaft ins Scheinwerferlicht. Gut erkennbar wird beim Rundgang die sich wandelnde Funktion des Kinderbildnisses vom 17. bis ins 19. Jahrhundert.
Das Jubiläum, das der Schau übergeordnet ist, nimmt bereits das Thema vorweg: 2024 jährt sich die Gründung des Philanthropinums zum 250. Mal. Die von Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau ins Leben gerufene Schule steht mit ihrem reformerischen Anspruch für die aufgeklärte Pädagogik im ausgehenden 18. Jahrhundert. Dieses Ideal spiegelt sich auch in den Kinderporträts wider, die ursprünglich dazu dienten, mögliche Heiratskandidatinnen und -kandidaten für den adeligen Nachwuchs anzuwerben, später aber das Spiel und die Darstellung des Kindes als Mensch mit eigener Persönlichkeit in den Vordergrund rückten.
Wenn heutzutage von Kinderporträts die Rede ist, handelt es sich meist um Fotografien, mit denen besondere Momente aus dem Leben des Kindes für das Familienalbum oder persönliche Social-Media-Profil festgehalten werden. Ob zuvor das Einverständnis der Kleinen eingeholt wurde, ist genauso fraglich wie im Fall des unbekannten Jungen mit Pferd, der um 1615–1620 für einen vermutlich niederländischen Maler in einem steifen, reich verzierten Gewand und mit Reitpeitsche posierte. Sein Porträt eröffnet die Ausstellung, die einen Bogen von der repräsentativen Funktion bis zur Idealisierung des Kinderporträts spannt. Schon Drei- bis Vierjährige wurden in lange, elegante Gewänder gehüllt, um den Fortbestand der Dynastie zu repräsentieren. Rasseln glänzten wie Goldschätze in der Hand des Kindes, wie das Bildnis des Prinzen Edward von England aus dem Jahr 1538 von Hans Holbein dem Jüngeren zeigt. Anhand der Kleidung ließ sich auch das Alter oder Geschlecht, in einigen Fällen sogar die spätere Rolle im Leben der Dargestellten ablesen. So etwa beim Porträt des Prinzen Wilhelm II. von Oranien-Nassau, das Anthonis van Dyck um 1631/1632 anfertigte. Von dem orangefarbenen Gewand über die hintergründige Säule als Symbol für Stärke bis zur Tapisserie mit Wappen des Hauses Oranien-Nassau deutet hier alles auf seine Nachfolge als Statthalter der Niederlande hin.
Ein Kind, das mit seinem Haustier posiert, löst heute wohl nicht mehr als die Freude über früh erlernte Verantwortung und einen liebevollen Umgang mit kleinen Lebewesen aus. Das Porträt des Fürsten Leopold I. von Anhalt-Dessau als Kind (um 1681–1685) birgt etwas mehr Interpretationspotenzial: Die Art, wie der Jüngling den Parforcehund an der kurzen Leine packt, soll bereits seine zukünftige Jagdleidenschaft visualisieren und darüber hinaus seine militärische Kompetenz, die für die spätere Landesherrschaft unabdingbar war.
Mit der Gründung reformpädagogischer Schulen Ende des 18. Jahrhunderts lockerten sich schließlich auch die Bildkonventionen, und so wichen herrschaftliche Bildnisse des Nachwuchses spontanen, ungezwungenen Szenen wie in Johann Friedrich August Tischbeins Porträt der kleinen Amalia Augusta von Anhalt-Dessau an einem Weihnachtsbaum. Nicht ihr Status als Prinzessin, sondern die pure kindliche Vorfreude auf die Bescherung unterm Baum, die hier 1797 erstmalig bildlich dargestellt wurde, sollte vermittelt werden.
Wo die natürliche Umgebung des kindlichen Elternhauses vermehrt in den Vordergrund der Darstellung rückt, gesellen sich fortan auch die Mütter zu ihrem Nachwuchs. Tischbeins Gemälde von Anne Pauline Dufour-Feronce mit ihrem Sohn Jean Marc Albert aus dem Jahr 1802 ist keineswegs frei von Geschlechterstereotypen (die Mutter sitzt zwischen Nähtisch und Stickarbeiten, während ihr Gatte Jacques Ferdinand mit der gemeinsamen Tochter in einem Gegenbildnis in der Natur verortet ist), verdeutlicht aber den Einfluss einer idealisierenden Romantik, unter dem die Verbildlichung einer innigen Mutter-Kind-Beziehung stand. Eine ähnlich zärtliche Darstellung brachte 1789 Marie Antoinettes Porträtistin Élisabeth Vigée-Lebrun auf die Leinwand. Ihr Selbstbildnis mit Tochter Julie, heute im Pariser Louvre zu sehen, findet als Randnotiz im Ausstellungskatalog Erwähnung, bleibt aber so die einzige weibliche Sicht auf das Thema des Kinderporträts. Entsprechende Leihgaben von Werken der Malerin oder ihrer Zeitgenossinnen, wie Angelika Kauffmanns und Adélaïde Labille-Guiards Porträts, hätten den Parcours selbstverständlich um eine bedeutende Perspektive ergänzt. Den Wert der Ausstellung, die eine chronologische und gehaltvolle Übersicht zur Entwicklung des Motivs bietet, mindert dies insgesamt nicht.
„Kindsköpfe – Kinderporträts vom Barock bis zur Romantik“
Anhaltische Gemäldegalerie Dessau
bis 1. Dezember