Dass der Erfinder des Readymades auch ein Jahrhundert später noch die Kunstwelt beeinflusst, zeigt Thomas Girst in seiner Kolumne. In Folge 6 geht es um Duchamp in Deutschland und eine seltene Einigkeit
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24.10.2024
An Taylor Swift oder Adam Driver kommt man gar nicht erst ran. Nicht mal in die Nähe. Da wuselt es von Coaches, PR-Managern, Bodyguards, Assistenten und Personal Trainern, die niemanden durchlassen. Im Bestfall sind im Gefolge auch wohlmeinende Familienmitglieder und gute Freunde mit dabei, man hofft es zumindest für die Gestirne, um die sich alles dreht. Was für Popstars und Hollywoodschauspieler gilt, gilt – in weitaus abgeschwächter Form und doch ebenso territorial wie protektionistisch – auch für wichtige Künstlerinnen und Künstler, ob tot oder lebendig.
Der Großteil des geistigen wie materiellen Erbes und damit auch die Bedeutung, die diesem zukommt, wird selten von mehr als von einem halben Dutzend Menschen verwaltet. Da sind der den Künstler, die Künstlerin oder die den Nachlass verwaltenden Familienmitglieder. Der Galerist, der über die meisten Werke verfügt. Die Sammlerin, die die wichtigsten Arbeiten besitzt. Das Museum, das ein möglichst großes Œuvre auf sich vereint. Die Kuratorin, die wichtige Ausstellungen ermöglicht. Schließlich die Kunsthistoriker oder -kritiker, die zum Künstler am umfangreichsten publizieren, wobei hier die Königsdisziplin das Werkverzeichnis bleibt. Oft sind sich diese Menschen untereinander spinnefeind — was nicht selten etwas mit Streitereien und Geltungsbewusstsein oder Geld zu tun hat sowie mit unterschiedlichen Auffassungen zum Werk und Wirken. Was nicht weiter schlimm wäre, würde dies nicht häufig dazu führen, dass signifikante Forschungsarbeiten blockiert werden. Das ist bei Duchamp nicht ganz anders, und so ist es ein großer Anlass zur Freude, wenn sich internationale Kuratoren, Kunsthistorikerinnen und Nachlassverwalter in selten trauter Einigkeit als Glückwünschende auf der Website des Duchamp-Forschungszentrum des Staatlichen Museums Schwerin wiederfinden, um dessen 15-jähriges Jubiläum gebührend zu feiern. Nur: Was genau hat es damit auf sich, und was hat Duchamp überhaupt in Schwerin verloren?
Denn mit Deutschland hatte der Künstler nicht sonderlich viel zu schaffen, von seinem für ihn außerordentlich wichtigen dreimonatigen Aufenthalt als junger Mann in München 1912 einmal abgesehen. Der passionierte Schachspieler nahm 1930 an einem Turnier in Hamburg teil, 1965 besuchte er in Hannover eine ihm ausgerichtete Ausstellung der Kestnergesellschaft. Viel mehr ist nicht bekannt. Duchamp las Nietzsche und vor allem Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ (1844) war ihm eine wichtige Lektüre. Deutsch hatte der Künstler in der Schule gelernt, und mit Max Ernst verband ihn mehr als nur die Nähe zum Surrealismus. Der Franzose war kaum vier Jahre älter, und beide hatten als Katholiken im New Yorker Exil während des Zweiten Weltkriegs eine neue Heimat gefunden. In Deutschland konnte man Duchamps Werk lange einzig über Bande gespielt begegnen. So ist Gerhard Richters „Ema (Akt auf einer Treppe)“ (1966) als direkte Auseinandersetzung mit Duchamps „Akt, eine Treppe herabsteigend“ (1912) bereits seit über einem halben Jahrhundert in Köln ausgestellt. Bereits zwei Jahre zuvor wurde Joseph Beuys‘ Performance „Das Schweigen des Marcel Duchamp wird überbewertet“ (1964) vom ZDF live übertragen. Die Tür, die sich zu Duchamp hin im deutschsprachigen Raum eröffnete, ist dem Schweizer Künstler Serge Stauffer zu verdanken, der seit Mitte der 1950er-Jahre mit diesem korrespondierte und ab 1973 dessen Schriften übersetzte und herausgab. Seinen Nachlass konnte Anfang der 1990er-Jahre Ulrike Gauss, Leiterin der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart, für ihr Museum sichern, womit man sich zuletzt 2018/2019 in einer großen Ausstellung auf Grundlage dieses Bestands verdient machte. Eine Schau, die seither nur von Susanne Pfeffers umfangreicher und kluger Retrospektive 2022 im Frankfurter Museum für Moderne Kunst in der schieren Anzahl der Exponate überboten wurde.
Und seit 1997 ist Schwerin im Besitz einer der bedeutendsten europäischen Sammlungen zu Marcel Duchamp, die zudem beständig wächst. Hier gelang es Kornelia von Berswordt-Wallrabe, der langjährigen Direktorin des Staatlichen Museums, nach einer wegweisenden Ausstellung zum Künstler einen Großteil der Duchamp-Sammlung des Antwerpener Galeristen Ronny van de Velde für 4,8 Millionen Mark zu erwerben. Knapp 100 Werke, finanziert vor allem aus Mitteln der Norddeutschen Landesbank und der Ostdeutschen Sparkassenstiftung. Was Duchamp, der Ende 1912 mit Besuchen in Dresden, Leipzig und Berlin schon weiter in den Osten Deutschlands vorgedrungen war, sicherlich gefreut hätte. Schließlich barg das Finanzwesen oder vielmehr die Unterwanderung desselben für ihn eine gewisse Faszination. Seine „Monte Carlo Bond“ von 1924 war eine Anleihe für Roulette-Einsätze des Künstlers im berühmten Kasino von Monaco, garantierte Gewinnausschüttung inklusive. Und für seinen Zahnarzt, den er 1919 nicht bezahlen konnte, entwarf er einfach einen falschen Scheck („Tzanck Check“) der „Teeth’s Loan and Trust Company“ in Höhe von 115 Dollar.
Beide Arbeiten, erstere als limitierte Edition und letztere als Reproduktion aus seiner „Schachtel-im-Koffer“, sind in Schwerin zu sehen. Wo es seit nunmehr über einem Vierteljahrhundert Tagungen und Ausstellungen, Bestandskataloge, eine Duchamp-Bibliothek, Schriftreihen und Lecture Series gibt sowie seit 2009 das Duchamp-Forschungszentrum (DFZ) und seit 2011 ein jährliches Stipendium für junge internationale Wissenschaftlerinnen. Und wenn das riesige Museum nach seiner Teilsanierung ab September 2025 wieder in seinem historischen Zustand von 1882 erstrahlt, dann selbstverständlich auch mit großem Duchampraum. Und was gefiele denn womöglich dem Uravantgardisten im Museum, flanierte er dann darin umher? Dr. Kerstin Krautwig, Kuratorin des DFZ ist sich sicher: „Eine Handzeichnung von Kilian Fabritius aus dem frühen 17. Jahrhundert. Archimedes zeigt in die Ferne, das hat etwas Philosophisches, etwas Vorausschauendes, die Geste verweist aufs Intellekt. So wie Lisiewskis „Selbstbildnis bei Kerzenlicht“ von 1760, auf dem der Maler mit dem Zeigefinger am Kinn nachdenklich die Betrachterin anblickt, die Kerze daneben ist Licht und auch Erleuchtung. Ja, und ganz bestimmt Gerhard von Graevenitz’ kinetische Skulpturen aus den frühen 1960ern. Betrieben mit Schallplattenmotoren, mechanisch ausgefuchst und bewegt nach Zufallsprinzip – all das hätte Duchamp interessiert!“ Schwerin, Frau Krautwig: herzlichen Glückwunsch! Ein Besuch zur Wiedereröffnung im nächsten Herbst ist vorgemerkt.
Hier geht es zu Folge 4 und Folge 5 von „Per Du mit Duchamp“.
Thomas Girst war Gründungsredakteur von „Tout Fait: The Marcel Duchamp Studies Online Journal“ (1999–2003) und Ko-Kurator der Ausstellung „Marcel Duchamp in München 1912“ im Lenbachhaus 2012. Er ist Autor von „The Duchamp Dictionary” (2014) sowie zahlreicher Publikationen über den Künstler.