Fast hundert Jahre ist es her, dass die Neue Sachlichkeit erfunden wurde. Doch ihre Kunst und Denkweise ist uns heute noch nah, wie Jubiläumsausstellungen in Mannheim und Stuttgart zeigen
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18.11.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 234
Er war um seine Meinung gebeten worden, also äußerte er sie in der gebotenen Deutlichkeit: „Die Qualität des jungen Nachwuchses ist im Allgemeinen trostlos“, schrieb der Münchner Galerist Hans Goltz im Frühjahr 1923 an Gustav Friedrich Hartlaub. Das harte Urteil klang für den Leiter der Mannheimer Kunsthalle wenig ermutigend, war aber noch nicht alles. Auch Otto Dix ließ durch seinen Händler Karl Nierendorf ausrichten, dass er sich an Hartlaubs geplanter Ausstellung sicher nicht beteiligen würde. Zwei Jahre später hatten sowohl Dix als auch Goltz ihre Meinungen geändert: Dix schickte Bilder von sich nach Mannheim. Und auch Goltz hatte mit Georg Schrimpf, Carlo Mense und Alexander Kanoldt Maler gefunden, deren Arbeiten er so viel Wertschätzung entgegenbrachte, dass er sie gerne in die ehemalige kurpfälzische Residenzstadt entsendete. Sie und die übrigen Künstler dieser sehr besonderen Schau prägten damit einen ganzen Stil.
Sechzig Maler, 130 Bilder und ein genialer Titel, das reichte, um aus „Die Neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ die kunstgeschichtliche Kategorie Neue Sachlichkeit zu machen. Dass in der Kunsthalle Mannheim drei Monate lang so unterschiedliche Werke zu sehen waren wie die im Duktus klassischen, in ihrer Haltung extrem unterkühlten Bilder eines Christian Schad, die bitterbösen Darstellungen gesellschaftlicher Missstände von George Grosz, Otto Dix und Georg Scholz und die immer irgendwie anscheinend gerade aus dem Gleichgewicht gefallenen Kompositionen des grandiosen Einzelgängers Max Beckmann, dieser nicht zu leugnende Umstand fiel 1925 schon den Zeitgenossen auf. Doch das schmälerte die Kraft des Begriff „Neue Sachlichkeit“ keineswegs, im Gegenteil: vermutlich steigerte es sie noch. Der Titel der Mannheimer Ausstellung ist vermutlich das früheste Beispiel, dass eine Kunstrichtung der letzten 150 Jahre nicht mit einem Ismus bezeichnet wurde. Sondern dass man ihr ein Label verlieh, um sie zu charakterisieren. „Es gelingt Museumsleuten sehr selten“, sagt Inge Herold, die stellvertretende Direktorin der Mannheimer Kunsthalle, „mit dem Titel einer Ausstellung einen bis heute gültigen Epochenbegriff zu erfinden.“
Die Neue Sachlichkeit war vieles: Bilder wie Christian Schads „Sonja“ von 1928, heute in der Neuen Nationalgalerie Berlin, oder „Operation“, das der Künstler ein Jahr darauf malte und das seit Langem zur Sammlung des Lenbachhauses in München gehört, sind emotionslos und distanziert bis an die Frostgrenze. Sie sezieren die Realität, als hätte Schad dafür statt eines Pinsels ein Skalpell verwendet.
Andere, etwa die Werke von George Grosz, Georg Scholz und Otto Dix sind dagegen tatsächlich alles, nur nicht „sachlich“ – und sie wollen es auch gar nicht sein. Grosz’ „Leichenbegräbnis“ aus den Jahren 1917/18, eines der Hauptwerke der Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart, sein Gemälde „Grauer Tag“ von 1921, Scholz’ „Industriebauern“ aus dem Jahr davor, Otto Dix’ an gotische Dreiflügelaltäre angelehntes Werk „Der Krieg“ von 1929/32: alles Malerei gewordene Anklagen aus dem Geist der Sozialkritik in verschärfter Form, entstanden unter dem Eindruck der Gräuel des Ersten Weltkrieges und so ätzend wie eine Live-Reportage von den Schlachtfeldern von Verdun.
Und Grosz, Dix und Scholz ging es auch um die Auswüchse des Kapitalismus. Um diese anzuprangern, verwandelten sie ihre Figuren in Karikaturen – allen voran Dix, der jede und jeden ins Lächerliche zog, außer einem: Der Einzige, der in den Zwanzigerjahren auf seinen Bildern gut aussieht, ist er selber. Diese Spielart der Neuen Sachlichkeit nannte man schon damals „Verismus“. George Grosz, als Berliner quasi von Natur aus geradeheraus, brachte es 1925 auf den Punkt: „Der Verist hält seinen Zeitgenossen den Spiegel vor die Fratze. Ich zeichnete und malte aus Widerspruch und versuchte durch meine Arbeiten diese Welt davon zu überzeugen, dass sie hässlich, krank und verlogen ist.“
Dann war da der große Sonderling, auch ihn rechnete man von Anfang an zur Neuen Sachlichkeit: Max Beckmann, der die Menschen in den Städten porträtierte, als spielten sie Theater in einem Stück, das „Leben“ heißt. Oder „Alltag“. Oder „Zirkus“. Beckmann war in den frühen Zwanzigern dem Expressionismus noch am nächsten, aber er nutzte ihn im Lauf der Zeit als seine Bühne für seine eigenen Symbole, so rätselhaft, so ergreifend und so fremdartig schön, dass man den Eindruck hat, er überrage die anderen Künstlerinnen und Künstler dieser Jahre wie heute die Frankfurter Bankentürme den Eisernen Steg über den Main, den er mehrfach malte. Beckmann nannte seinen Stil „tranzendente Sachlichkeit“, und natürlich war auch er in der geschichtemachenden Mannheimer Ausstellung von Gustav Friedrich Hartlaub prominent vertreten.
Schließlich gab es noch die „rechte, konservative“ Fraktion, die schon Hartlaub als solche erkannte. Maler wie der gebürtige Karlsruher Alexander Kanoldt und Georg Schrimpf aus München, die die Zeit anzuhalten versuchten, in Stillleben oder Kompositionen mit jungen Frauen in Rückenansichten, die am Fenster stehen und hübsch und nett und brav hinaus in die Landschaft schauen. Sie sind elegisch, wenn man so will auch „klassisch“ und haben ohne Zweifel ihren Reiz. Aber sie wollen ausdrücklich niemandem wehtun, was in der Kunst der Neuen Sachlichkeit, erinnert man sich an das Zitat von George Grosz, nicht selbstverständlich war.
2025 jährt sich Hartlaubs Ausstellung zum hundertsten Mal. Da die Twenties des 20. Jahrhunderts im Moment sowieso ziemlich präsent sind und Jubiläen inzwischen offenbar schon aus Prinzip vorverlegt werden, kann man im Jahr 99 nach der Schau in Mannheim ein erhebliches Maß an Aktivitäten registrieren. Bereits diesen Sommer zeigte das Leopold Museum in Wien „Glanz und Elend – Neue Sachlichkeit in Deutschland“. Ab 30. Oktober will man dort mit einer Einzelausstellung des Bregenzer neusachlichen Malers Rudolf Wacker nachlegen. Sehr interessant ist auch die Schau „Neues Sehen, Neue Sachlichkeit und Bauhaus. Fotografische Neuerwerbungen aus der Sammlung Siegert“ an der Staatsgalerie Stuttgart. Gezeigt werden auf 600 Quadratmetern in den Räumen „The Gällery“ rund 150 Fotografien der Epoche, die die Stuttgarter seit zwei Jahren besitzen. Da sie in Chemnitz scheinbar als Einzige bis Hundert zählen können, eröffnet dort im Frühjahr 2025 eine Ausstellung mit Arbeiten der bis dahin doch recht unterbelichteten Neuen Sachlichkeit aus Osteuropa.
Doch das größte, ambitionierteste und wissenschaftlich engagierteste Projekt wird die Ausstellung sein, die ab 22. November in der Kunsthalle Mannheim zu sehen ist. Kuratiert hat sie die promovierte Kunsthistorikerin Inge Herold, und es handelt sich bei der Schau um weit mehr als nur um eine Jubiläumswürdigung. Obwohl dort auch rund zwei Dutzend der Arbeiten vertreten sind, die schon 1925 in der Kunsthalle Mannheim ausgestellt waren, ist es keine bloße Kopie – denn die ist in einer virtuellen Präsentation auf Tablets aufgespielt, die auf die Besucherinnen und Besucher im Altbau der Kunsthalle warten. Hinter dem Hightech Erlebnis steht echte geschichtliche Basisarbeit. Herold und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stand zwar der Katalog von 1925 zur Verfügung, aber der war praktisch ohne Abbildungen, bei vielen Malern wurden noch nicht einmal die Titel der Werke genannt, auch Maßangaben fehlten. Um herauszufinden, wie die Hartlaub’sche Schau im Einzelnen aussah, musste das Team zwei dicke Leitz Ordner mit Künstlerkorrespondenzen durchforsten. Nach Wochen des mühevollen Klein-Klein konnten immerhin 110 der ursprünglichen 132 Bilder „mit großer Wahrscheinlichkeit“ identifiziert werden. Von dieser Arbeit werden künftige Generationen von Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern profitieren.
Und da sich Herold, der Kunsthallen-Direktor Johan Holten und alle anderen am Haus ohnehin darüber im Klaren sind, welche Bedeutung die Ausstellung von vor einhundert Jahren hat, können sie in Mannheim unverkrampft und ohne Skrupel daran gehen, das Konzept von 1925 kritisch zu hinterfragen. Auch wenn die Schau, die Hartlaub damals nach gut zwei Jahren Vorbereitung auf die Beine stellte, bis in die Gegenwart nachwirkt, so war sie in einem Punkt doch sehr in ihrer eigenen Zeit gefangen. Der wichtigste Kritikpunkt heute: „Zu der Ausstellung vor einhundert Jahren hatte er nur männliche Künstler eingeladen“, sagt Inge Herold, „Frauen waren nicht vertreten, obwohl sie es verdient gehabt hätten. Das konnten wir so nicht stehen lassen, deshalb zeigen wir nun auch Werke zum Beispiel von Anita Rée, Jeanne Mammen, Lotte Laserstein und Georgia O’Keeffe.“
Dass auch O’Keeffe ab November in Mannheim gastiert, deutet auf Teil zwei der kritischen Befragung: Wie der Untertitel von 1925 schon sagte, nahmen seinerzeit nur Künstler aus Deutschland an Hartlaubs Ausstellung teil. Jetzt binden Herold und ihr Team auch Werke von Künstlerinnen und Künstlern aus den USA, aus Italien, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden und Frankreich in ihre Schau mit ein. Und auch der dritte neue Aspekt in der Beschäftigung mit „Neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ verspricht einiges ans Tageslicht zu befördern, das sonst gerne unter den Teppich gekehrt wird. In Mannheim haben sie sich die Mühe gemacht, die Biografien und künstlerischen Entwicklungen der damals beteiligten Künstler nach 1933 zu untersuchen. Bei Hartlaub war der Fall klar: Die neuen Machthaber entließen ihn als „Kulturbolschewiken“, sobald sie die Gelegenheit hatten – am 20. März 1933, zwei Wochen nach der letzten „freien“ Reichstagswahl. Doch es gab etliche Maler, die sich in den geänderten Verhältnissen erstaunlich gut zurechtfanden.
Das ist eben auch eines der Merkmale der Neuen Sachlichkeit: Die Künstlerinnen und Künstler, die man heute unter dem Epochenbegriff zusammenfasst, hatten oft sehr unterschiedliche Vorstellungen und Ziele. Was sie aber einte, war die Art, in der sie ein langes Jahrzehnt lang die Malerei zum Spiegel der Gegenwart machten. „Das Neue an der Neuen Sachlichkeit“, sagt Inge Herold, „war das Zeitgefühl, waren die Inhalte. Wenn man diese Bilder betrachtet, erfährt man eine Menge über das neue Menschenbild in den Zwanzigerjahren, über die Menschen der damaligen Zeit überhaupt.“ Da ist auf der einen Seite das Verlorene, Versehrte, Gebrochene nach 1918, und das oft sehr konkret: Noch nie sah man so viele Männer, denen Gliedmaßen fehlten wie in der Neuen Sachlichkeit – ehemalige Soldaten, denen die Kriegstreiber nach dem Attentat von Sarajewo ihr Leben stahlen, ihre Arme und Beine, Augen und Ohren nahmen und die nun als Bettler auf den Straßen saßen, bedauert von den Witwen und Töchtern derjenigen, die auf den Schlachtfeldern in anonymen Gräbern lagen.
Da war aber noch mehr: das Vergnügen, das zur Sucht wurde, die Nächte ohne Sperrstunden, die Freiheit zu lieben, wen Mann und Frau wollte. Da waren die Kabaretts und Revuen, die Tiller Girls, die professionellen Antänzer und Illusionisten, die Dichter und andere Helden der brotlosen Kunst. Allzeit verfügbar waren Prostitution und Drogen, ständig auf Achse die Journalisten wie Egon Erwin Kisch, der 1924 seine Augenzeugenberichte unter dem Titel „Der rasende Reporter“ veröffentlichte. Christian Schad überlieferte ihn mit all seinen Tattoos am entblößten Oberkörper der Nachwelt – der Buchtitel wurde zu seinem Spitznamen, das Bild befindet sich heute in der Hamburger Kunsthalle. 1928 malte Rudolf Schlichter Kisch ein zweites Mal, mit Humphrey Bogart-Blick, brennender Zigarette im Mund, im Anzug mit Weste vor einer Litfaßsäule („Fußball – Tennis Borussia gegen Sturm Prag“) am Romanischen Café, dem Wohnzimmer der Kulturboheme am Berliner Breitscheidplatz. Schlichters Gemälde gehört heute zur Sammlung der Kunsthalle Mannheim und wird auch in der aktuellen Ausstellung gezeigt.
Die Ehrenloge am prominenten Ende dieser Aufzählung ist für die selbstbewussten Frauen reserviert, die man nun plötzlich überall sah. Die Tennis spielen wie in einem Gemälde von Lotte Laserstein, die im Sportwagen am Steuer sitzen, den Rausch der Geschwindigkeit genießen wie bei Albert Birkles „Dame im offenen Wagen“ von 1925. Auch Tamara de Lempicka hat sich selbst so porträtiert, in einem Auto der Farbe British Racing Green, mit furchtlosen stahlblauen Augen und rot geschminkten Lippen. Emanzipiert, selbstermächtigt, was seinerzeit als Ideal galt, gilt noch immer. Oder Schads „Sonja“, die man gar nicht oft genug erwähnen kann: Kurzhaarschnitt, Zigarette rauchend, am Tisch allein im Café, blasse Haut, dunkle Augenringe, im schwarzen Kleid mit durchsichtigen Chiffon-Ärmeln, Stoffblume an der Schulter, mit einem Blick wie ein 400-Seiten-Roman und dem Dichter Max Herrmann-Neiße mitsamt Champagnerflasche im Hintergrund. Das Bild ist fast einhundert Jahre alt, aber wenn einem Sonja heute in einem Berliner Lokal begegnete, wundern würde sich niemand.