Die neue Direktorin der Overbeck-Gesellschaft in Lübeck Paula Kommoss erzählt von ihrer Leidenschaft für Ausstellungsbooklets, ihrer Bewunderung für Hanne Darboven und Anita Rée, und sie verrät ihre Pläne fürs kommende Jahr
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04.12.2024
Von Hanne Darbovens prozesshafter Praxis und spartenübergreifender Kunst war ich schon immer fasziniert. Mich beeindruckt das Zusammenspiel geometrischer Strukturen mit Schrift und Zahlen, wobei Darboven oft rhythmische Muster einsetzte. Diese „Schreibwerke“, in denen sie Datensammlungen und persönliche Aufzeichnungen in visuelle Formen umsetzt, sind zugleich in der Formsprache minimalistisch, wie in ihrer Komposition äußert komplex. Sie erinnern mich an musikalische Variationen.
Das ändert sich von Zeit zu Zeit. Aktuell ist es die Skulptur der „Daphne“ (1930) Renée Sintenis, welche mich jeden Morgen beim Eintreten in die Overbeck-Gesellschaft begrüßt. Anlässlich der Einweihung des Neubaus des Kunstvereins – ein seltenes Beispiel des neuen Bauens in Norddeutschland – beauftragte der damalige Museumsleiter Carl Georg Heise die Berliner Künstlerin mit einer größeren Reproduktion ihrer „Daphne“ von 1919. Was ich daran spannend finde, ist, dass es für Sintenis’ Version der alleinstehenden Daphne kein unmittelbares bildhauerisches Vorbild gibt – es ist das erste mir bekannte Beispiel, das sie allein im Prozess der Metamorphose zeigt. Denn Daphne wird durch die Kunstgeschichte hinweg meist mit Apoll abgebildet, der sie liebeswütig bedrängt. Um ihm zu entgehen, verwandelte sich Daphne mit der Hilfe ihres Vaters in einen Lorbeerbaum. Diese Verwandlung zeigt die Skulptur. Ein Jahr später, 1931, wurde Renée Sintenis als erste Bildhauerin und als zweite Frau überhaupt Professorin an die Akademie der Bildenden Künste in Berlin, wo die Nazis 1934 ihren Austritt erzwangen. Neun Jahre nach der Eröffnung in Lübeck beauftragte das MoMA eine weitere Version der großen „Daphne“, die bis heute in Lübeck und New York zu sehen ist.
Der Künstlerin Anita Rée wäre ich gern begegnet. Vor einem Jahrhundert, in den 1920er-Jahren, reiste sie nach Lübeck, um ihre jüngsten Werke in der Overbeck-Gesellschaft zu präsentieren. Bei unserer Ankunft in Lübeck waren wir im selben Alter. Gern hätte ich mehr von ihr erfahren: zu ihrer Kunst, ihrer Wahrnehmung der Gegenwart und ihrer Rolle in der Gesellschaft. Sie war eine Frau, die überzeugt war, von dem, was sie macht. Unbedingt wollte sie Künstler sein, ausstellen, ernst genommen werden. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere wurde sie als Jüdin von den Nazis diffamiert und aus der Kunstwelt in Hamburg verbannt. Von der Ausgrenzung schwer getroffen, flüchtete sie nach Sylt, wo sie sich vereinsamt das Leben nahm.
Carrie Mae Weems würde ich sehr gern mal treffen. Seit fast 40 Jahren erforscht die afroamerikanische Künstlerin dominante, historische Erzählungen und zeigt, wie Politik, Wissenschaft, Kunst, Medien, Fotografie und Architektur diese prägen. Sie beleuchtet die Geschichten marginalisierter Gruppen, indem sie bedeutende Orte aufsucht oder historische Szenen nachstellt. Dabei deckt sie Leerstellen auf, die durch Machtstrukturen, soziale Ungleichheiten oder Rassismus entstehen – ein zentrales Thema in ihren Fotoprojekten, Videos und Installationen.
„Travelling“, eine Retrospektive zu Chantal Akermans einzigartigem Schaffen. Es sind Werke ausgestellt, die ich zuvor noch nie gesehen hatte, wie etwa ein frühes Werk, das Akerman für ihre Bewerbung an der Kunstakademie Brüssel geschaffen hatte: Aufnahmen aus der Brüsseler Innenstadt, die einen Blick auf das alltägliche Stadtgeschehen in der Vergangenheit erlauben. Die Ausstellung wird bis zum 15. Januar im Jeu de Paume in Paris gezeigt und bietet einen eindrucksvollen Blick hinter die Kulissen von Akermans Werk. Es sind neben den Filmarbeiten auch viele Details, Fotografien und Objekte aus den verschiedenen Drehs zu sehen.
Tatsächlich sammle ich leidenschaftlich Ausstellungsbooklets: sie begleiten mich weit über die Ausstellungen hinaus. Oft tragen sie die Handschrift der ausgestellten Künstler*innen und Kurator*innen und sind selbst kleine Kunstwerke, die ich immer wieder zur Hand nehme.
Eine Kollegin von mir, Line Ebert, arbeitet aktuell an der Gründung ihrer eigenen Galerie in Luxemburg. Im kommenden Jahr darf sich die Galerielandschaft auf neue Kunst und Konzepte aus dem kleinen Land freuen. Ich bin sehr gespannt!
Kunstwerke sind für mich im Privaten wie kritische Weggefährten – eine Art Spiegel, durch den man sich immer wieder neu versteht. Die meisten meiner Kunstwerke sind Geschenke von befreundeten Künstler*innen, die mich auch immer wieder an eine bestimmte Zeit oder Lebensabschnitt denken lassen.
Eine Jahresgabe von Almud Linde, welche sie für die Overbeck-Gesellschaft angefertigt hat. Die Künstlerin kommt aus Lübeck und hat vier Klostersteine, die typisch für die Gegend sind, übereinandergelegt. Es entsteht ein stabiler Quader, der für sich steht, oder auf dem weiter aufgebaut werden kann. Ein Kunstwerk, das für mich auch einen Neubeginn symbolisiert.
Die dänische Künstlerin Asta Lynge ist mir tatsächlich im Sommer erstmals begegnet. Mit ihr werde ich die zweite Ausstellung meines Programms in Lübeck realisieren, die Mitte Mai eröffnen wird. Sie sind herzlich eingeladen!