Museum Rietberg Zürich

Einfach mal zuhören!

Mit zwei Ausstellungen verändert das Zürcher Museum Rietberg unseren Blick auf die indische Miniaturmalerei und auf die umkämpften Benin-Bronzen

Von Tim Ackermann
09.12.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 235

Im Anfangsmotiv des Musikstücks „Ghambira Raga“ fällt der Finger des Sitarspielers von einem silbrig klingenden G zurück auf den Grundton D, um dann einen Moment später zu einem noch höher flirrenden A auszugreifen. Die hübsche melodische Phrase wird mehrfach wiederholt. Wir lauschen ihr, doch welches Bild erzeugen die Klänge in unserem Kopf? Vielleicht denken wir bei den Tonsprüngen an die Bewegung eines Paddels, das am Körper vorbei nach hinten gezogen wird, um dann mit dem nächsten Schlag ein wenig weiter vorne das Wasser des Flusses zu berühren – zurück, vor, zurück, vor. Wir blicken nun auf das Blatt, das auf dem Pult vor uns liegt, und stellen fest: In seiner Miniatur hat der unbekannte Meister, der um 1790 in der Tradition nach Manaku und Nainsukh von Guler arbeitete, exakt diese Szene einer Bootsfahrt über einen Fluss entworfen.

Töne erzeugen Gefühle, Gefühle erzeugen Bilder: Auf dieser Erkenntnis basiert die Ausstellung „Ragamala – Bilder für alle Sinne“ im Museum Rietberg in Zürich, die ein Genre der indischen Miniaturmalerei anhand von etwa 40 Werken aus der eigenen Sammlung auf wirklich innovative Art präsentiert. Gewohnt sind wir, dass uns die kostbar gestalteten Blätter still entgegentreten. Doch Ragas haben einen Sound, am Anfang ihrer Entwicklung stand der Klang. Als uralte Melodiestrukturen gehören sie zur klassischen indischen Musik. Einst gab es Tausende von ihnen, heute sind noch 200 geläufig, und jedes dieser Notenarrangements soll bei den Hörenden eine festgelegte emotionale Stimmung auslösen, die wiederum mit bestimmten Merkmalen wie Geschlecht, Tages- oder Jahreszeit assoziiert wird.

Gambhira Raga, Folio aus der
Gambhira Raga, Folio aus der „Zweiten Guler Ragamala Serie“, Pahari-Gebiet, um 1790. © Museum Rietberg

Musik als Inspiration für die indische Miniaturmalerei

Das komplexe Geflecht aus Musik und Emotionen wurde zur Inspiration für Dichter. Deren Verse und Sprachbilder wurden später dann von Miniaturmalern in visuelle Bilder übertragen. Die Blütezeit dieser Kunst fällt auf das 15. bis 19. Jahrhundert, als fürstliche Herrscher ganze Bilderserien zu ausgewählten Ragas in Auftrag gaben: Es entstanden die Ragamala, was wörtlich übersetzt „Girlande von Ragas“ bedeutet. An den fürstlichen Höfen wurden die Miniaturen stets in Kombination mit der entsprechenden Musik und Dichtung rezipiert. Dieser ursprünglichen Erfahrung kommen wir jetzt nah, denn zu 24 ausgewählten Blättern können wir per Kopfhörer tatsächlich den passenden Versen und Klängen lauschen. Die vergessenen historischen Melodien wurden dafür extra in Indien in neuen Varianten rekonstruiert.

Zum Hindola Raga, in dem ein noch nicht identifizierter Kota-Meister um 1770 die Erzählung eines Königs verbildlichte, der sich in der Morgendämmerung mit seinen fünf Königinnen auf einer Schaukel vergnügt, hören wir nun den Klopfrhythmus der Pakhavaj-Trommel. Er klingt wie der Schlag eines rasch pulsierenden Herzens. Aus derselben Ragamala-Serie stammt das Savant-Sarang Ragini – hier zeigt der Kota-Meister eine junge Frau, die sich in der Mittagshitze vor Verlangen windet. Die sirrenden Tonleitern der Surmandal-Kastenzither unterstreichen die Stimmung. Als Clou stellt die Schau zu diesem Werk noch Glasflakons mit jenen Düften zur Verfügung, die der Maler im Bild andeutet. Die Hütte der jungen Frau aus Vetiver, die unreifen Mangos am Baum, der Teich mit den Lotusblüten – all das lässt sich beim Betrachten erschnuppern! Wer das erlebt hat, begreift leicht, dass Ragamala-Miniaturen ohne sinnliche Begleitung jenen leblosen Schmetterlingen ähneln, die aufgespießt hinter Glas gezeigt werden.

„Zeitgenössische Figur im alten Stil“, aus Nigeria, Benin City, vor 2023
„Zeitgenössische Figur im alten Stil“, aus Nigeria, Benin City, vor 2023. © Foto: Rainer Wolfsberger. Museum Rietberg

Es hat sich im Museum Rietberg eine neue Haltung etabliert, was Szenografie und Objektanschauung angeht, das wird auch in einer zweiten Ausstellung offenkundig: „Im Dialog mit Benin – Kunst, Kolonialismus, Restitution“ beschäftigt sich mit Bronzen aus dem Königreich Benin. Ein Thema, das stets Fragen von Raubkunst und Rückgabe beinhaltet. Als Gründer der 2021 ins Leben gerufenen Benin Initiative Schweiz hat das Museum Provenienzforschung für seine Sammlung an Benin-Werken betrieben: „Wir konnten dadurch feststellen, dass elf von 16 Werken gesichert oder sehr wahrscheinlich der Plünderung des Beniner Königspalastes durch britische Soldaten 1897 entstammen“, sagt Direktorin Annette Bhagwati. „Jetzt sind wir mit der Stadt Zürich, die unser Träger ist, in einem politischen Prozess, um die rechtlichen Rahmenbedingungen abzuklären und zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen ein Eigentumstransfer erfolgen könnte. Die Entscheidung darüber liegt bei der Stadt.“

Perspektivwechsel bei den Benin-Bronzen

Unabhängig von den politischen Folgeentscheidungen – außergewöhnlich ist die aktuelle Schau zum einen, weil sie auch gegenwärtige Schöpfungen nigerianischer Bronzegießer zeigt und damit vor Augen führt, dass die westliche Fixierung auf eine bestimmte Epoche dieser Tradition absurd ist. Und zum anderen wird der Perspektivwechsel zwischen dem europäischen Blick und der afrikanischen Innensicht in der Ausstellungsarchitektur nachvollzogen: An den Außenwänden lesen wir etwa von einer bronzenen Reliefplatte, die im Museum Rietberg früher den unspezifischen Titel „Der nackte Knabe“ trug. Im hofartigen Innenbereich erklären uns dann nigerianische Historikerinnen und Historiker die wahren Zusammenhänge: Die hier ausgestellte Originalplatte zeigt den Prinzen Odogbo, der öffentlich unbekleidet seine Männlichkeit demonstrieren musste, um sich als rechtmäßiger Nachfolger des Königs zu legitimieren. Klar wird, dass schon unsere westliche Einordnung des Werks als reine Kunst fragwürdig ist, diente das Objekt doch primär der Geschichtsschreibung. Mit einer derartigen Erweiterung des Kontexts gelingt es der Schau, ein tieferes Verständnis für die Werke zu erzeugen. 

Service

AUSSTELLUNG

„Ragamala – Bilder für alle Sinne“

bis 19. Januar 2025;

„Im Dialog mit Benin“

bis 16. Februar 2025,

im Museum Rietberg, Zürich

rietberg.ch

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