Dass der Erfinder des Readymades auch ein Jahrhundert später noch die Kunstwelt beeinflusst, zeigt Thomas Girst in seiner Kolumne. In Folge 8 geht es um Duchamp und das innigste aller Gefühle
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20.12.2024
In seinem jüngst veröffentlichten und überaus lesenswerten „Manifest der neuen Wirklichkeit“ schreibt Rafael Horzon, dass sich Kunst „seit über einem Jahrhundert gedanklich keinen Millimeter voranbewegt“ habe, was „Marcel Duchamp zu verdanken“ sei. Da seit ihm nichts Neues mehr geschaffen wurde, verkomme Kunst zu „intellektueller Folklore“. Der Kunstmarktexperte Magnus Resch sieht das ganz ähnlich und verkündete in einem Gespräch im Gulbransson Museum Mitte Dezember: „Das Studium der Kunstgeschichte sollte nur bis Duchamp gehen. Danach ist es ein Studium des Marketings.“ Nach Horzon und Resch ist Duchamp für Künstlerinnen und Künstler wie für Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker keine Zäsur, sondern Endpunkt. Gleichwohl muss es ja irgendwie weitergehen. Etwa mit den Arbeiten von Gaëlle Choisne, vertreten von der Galerie „Air de Paris“ – übrigens der gleichnamige Titel von Duchamps Readymade einer Glasampulle von 1919 – und frisch gekürte Gewinnerin des Prix Marcel Duchamp 2024, deren Werke noch bis zum 6. Januar im Centre Pompidou zu sehen sind.
„Ihre Arbeit bewegt sich durch die Spannung, die sie zwischen dem Alltäglichen und dem Außergewöhnlichen erzeugt, zwischen Geschichtsbewusstsein und Zukunftsprognose“. Hm. So will es zumindest das Statement der Jury, der neben internationaler Museumsprominenz auch Thomas Hirschhorn angehörte, Gewinner des ersten Prix Marcel Duchamp 2000. Der wiederum verriet mir in einem Interview aus dieser Zeit: „Duchamp hat keine Kompromisse gemacht. Er war der intelligenteste Künstler seines Jahrhunderts.“ Vielleicht nutzen wir diese Gelegenheit und fragen uns einmal tatsächlich, wo Duchamp, wenn überhaupt, eigentlich jemals Kompromisse gemacht hat. Oder hat machen müssen. Und da sind wir ganz schnell bei der brasilianischen Bildhauerin Maria Martins. Und bei der Liebe. Nicht zuletzt anlässlich der Weihnachtszeit und des Fests der Liebe, sozusagen aus gegebenem Anlass. Auch wenn die Liebe zwischen Duchamp und Martins leider zerbrach, wie im Leben doch stets so vieles. Aber beginnen wir doch besser am Anfang:
Duchamps Hauptwerk auf Glas, „Die Braut von ihren Junggesellen entblösst, sogar“ (1915–1923) handelt neben sehr viel anderem auch von der Grausamkeit unerfüllter Liebe und einseitigen Begehrens. Es war Gabrielle Buffet-Picabia, die Frau von Duchamps Künstlerfreund Francis Picabia, die Duchamps Leidenschaft für sie Anfang der 1910er-Jahre nicht erwiderte. Auch wenn der ehemals zurückhaltende Künstler schon wenig später in New York stets von einem „Blumenbouquet duftender Kleider, dass sich immerfort erneuerte“ umgeben war, wie Henri-Pierre Roché schrieb, so schien Liebe ohne Leiden für Duchamp selten möglich – wohl mit Ausnahme der zu seiner Frau Teeny, die er 1954 mit Ende 60 heiratete. Und was die Beziehung des chronischen Junggesellen zu Maria Martins, dreifache Mutter und Frau des brasilianischen Botschafters in den USA, anbelangt, so machte der Duchamp-Experte Francis M. Naumann im Winter 1997 in São Paulo dazu eine entscheidende Entdeckung, als er Martins’ Tochter Nora Lobo besuchte. In ihrem Besitz fanden sich wichtige Originalskizzen zu Duchamps Glasarbeit, die er Martins 1946 mit dem Satz widmete: „Für Maria (Mariée = frz. Braut), endlich ist sie da“.
Kennengelernt haben sie sich in den frühen 1940er-Jahren, vermutlich im Kreis um Peggy Guggenheim, ihre Affäre währt bis 1951. Duchamp erschafft ein Werk aus seinem Sperma für sie („Paysage Fautif“, 1946), nutzt Abgüsse ihres Körpers für erotische Kleinskulpturen und den Torso seines letzten großen Werkes „Gegeben sei:…“ (1946–1966), dessen erste Inspiration vor allem Martins und ihre oft ausgestellten Skulpturen waren, von denen einige so expressionistisch wie surreal den Geschlechterkampf biomorph in Bronze bannen („Impossibile III“, 1946). Selbst ihre Fußsohle zeichnet er zärtlich mit leichten Bleistiftstrichen nach, obschon er der Malerei doch seit Jahrzehnten den Rücken gekehrt hat. Ein Gipsabdruck ihrer nackten Brust dient als Grundlage für das Cover der Deluxe-Ausgabe des Katalogs von „Le Surréalisme en 1947“.
Vor allem aber schreibt er ihr. Schreibt ihr dergestalt, wie wir den großen kühlen und enthobenen Meta-Ironiker und Einzelgänger unter den Künstlern des 20. Jahrhunderts nicht kannten. Erst im Jahr 2006 versteigert Sotheby’s 35 seiner Briefe an Maria Martins, die sich bis dahin unveröffentlicht in ihrem Familienbesitz befanden. Sie sind voller Leidenschaft und Begehren. Er wolle nicht mehr einsam, sondern allein nur mit ihr zusammen sein. „Wie gerne würde ich mit Dir atmen“ und: „Küsse überall zur gleichen Zeit“. Vergeblich bittet er sie darum zusammenzuziehen. „Das Leben ist leer, die Stadt ist leer“, wenn sie nicht bei ihm ist, überkommt ihn ein „Gefühl riesiger Leere“. Im Herbst 1951 kehrt sie mit ihrem Mann nach Brasilien zurück und nimmt Duchamps Herz mit. Auf seiner Reise nach São Paulo entdeckt Naumann bei einer weiteren Verwandten von Maria Martins ein Gedicht von ihr, notiert auf einem Fetzen Papier, am Höhepunkt ihrer Affäre mit Marcel Duchamp: „Sogar lange nach meinem Tod / Lange nach deinem Tod / möchte ich dich quälen. / Ich möchte, dass der Gedanke an mich / sich wie eine Feuerschlange um deinen Körper windet / ohne dich zu verbrennen. / Ich möchte dich verloren, erstickt, umherirrend sehen / im trüben Dunst / gewoben von meinen Wünschen. (…) Ich möchte dass Dich die Nostalgie meiner Anwesenheit lähmt.“
Es geht übrigens immer weiter mit den beiden, auch bald ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ende ihrer Beziehung. Erst 2017 kam ein vielbeachteter Dokumentarfilm der Regisseurin Elisa Gomes über Maria Martins heraus. Und Ende nächsten Jahres erscheint bei der New Yorker Abbeville Press mit „Impossible“ ein ganzes Buch mit knapp 200 Seiten zur Affäre zwischen Martins und Duchamp. Autor Francis M. Naumann verriet mir das Coverdesign: Duchamps Umrisszeichnung eines Herzens von etwa 1946, mit rotem Buntstift ausschraffiert. Darunter hat er mit Tinte „That is for Maria“ geschrieben. Auf dem kleinen Notizblock ist oben „Please Do No Throw This on Floor” in Druckschrift vermerkt: „Bitte nicht auf den Boden werfen“. Die Filmrechte am Thema behält sich Naumann indes vor. Schwärmte er zu Beginn seiner Recherchen in den 1990ern noch von Jeremy Irons und Isabel Adjani als Idealbesetzung für die Hauptrollen, so kämen vom Alter her nun eher Penelope Cruz und Owen Wilson ifrage? „Warum nicht, hört sich doch gut an“ schwärmt Naumann. „Salma Hayek und Ralph Fiennes oder noch besser Keanu Reeves mit anderer Haarfarbe wären eine andere Möglichkeit.“
Hier geht es zu Folge 7 von „Per Du mit Duchamp“.