Als einzige Künstlerin der Arte povera überflügelte Marisa Merz ihre Kollegen mit ihrer Experimentierlust. Nun wird sie im Kunstmuseum Bern gewürdigt
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10.03.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 238
In der Eingangshalle des Kunstmuseums Bern schwebt die „Living Sculpture“ von Marisa Merz. Die Installation aus unsichtbar vernähten, flirrenden Aluminiumstreifen hing in dieser frühesten Form in der Küche der Turiner Wohnung von Marisa und Mario Merz von der Decke. Nun wird das ungewöhnliche „Küchenelement“ der 2019 verstorbenen Künstlerin erstmals öffentlich gezeigt. Auf einem Screen in der Halle läuft der schwarz-weiße Kurzfilm „La conta“ von 1967, der Marisa Merz, ebenfalls in ihrer Küche, beim Erbsenzählen zeigt. Das ist doppelsinnig: Die Metapher für häusliche Tätigkeit in ihrer ständigen, auch lähmenden, Wiederholung verschmilzt mit der Anmutung einer meditativen Aktivität, die sich nicht an die geltenden Normen von Produktivität hält.
Etwa zur gleichen Zeit beginnt Merz, ihre „Scarpette“ („Kleine Schuhe“) aus Nylonfaden, später auch Kupferfaden, zu stricken. Die Verwendung von Aluminium für die „Living Sculpture“ wie auch der Einsatz eines synthetischen Produkts wie Nylon verweisen auf industrielle Produktion: Turin, wo Marisa Merz 1926 geboren wurde und die meiste Zeit lebte, war und ist ein Zentrum der Automobilindustrie. Die Künstlerin lädt die banalen Werkstoffe mit poetischer Energie auf. Zudem passen die „Scarpette“ zur ersten Hochphase der Ballerinas-Schuhmode. Auf ihre Art unterhält Merz durchaus eine Beziehung zur gesellschaftlichen Realität. So passt von Anfang an ihr Satz: „Ich interessiere mich nicht für Macht oder eine Karriere. Mich interessieren nur die Welt und ich selbst.“ Das ist programmatisch – und keineswegs eine Selbstbescheidung. Merz erhebt damit ihren Anspruch, Intimität und eine Kunstpraxis, die spätestens seit den Siebzigerjahren als feministisch bezeichnet wurde, zusammenzubringen. Aufs Tapet kam die „weibliche“ Ästhetik; dazu, ob ihr selbst das passte, hat sie sich wohl nie geäußert.
Unter dem Titel „Ascoltare lo spazio / In den Raum hören“ zeigt nun das Berner Kunstmuseum ihr Werk in einer Retrospektive. Marisa Merz gilt als einziges weibliches Mitglied der Arte-povera-Bewegung. Die avantgardistische Kunstströmung hatte ihren Höhepunkt von Ende der Sechziger- bis Anfang der Siebzigerjahre in Italien, ihr Name rührt von den „armen“, also vor allem alltäglichen Materialien her, die von Künstlern wie Alighiero Boetti, Michelangelo Pistoletto oder Mario Merz überwiegend für installative Werke verwendet wurden. Der entscheidende Unterschied zu diesen männlichen „Poveristi“ bestand in Marisa Merz’ nie abreißender Experimentierlust, mit der sie eine ganz eigenständige Ikonografie entfaltete. Aluminium, Nylon, Kupfer, Ton, Wachs, Wolle, Stoff, Gips – alles vermischte sie in ihren Zeichnungen und Gemälden, in ihrer Bildhauerei und Installation.
Ihre „Teste“, oft aus Ton vorgeformten Gebilde, stattete sie mit so diversen Medien aus wie Reißnägeln und Blattgold oder aus Kupferdraht gestrickten Netzen, die sie auf nachgerade anarchische Weise kombinierte. Das Maß dieser einzelnen „Köpfe“, so heißt es im Saalblatt zur Ausstellung, bestimmt „so viel – oder so wenig – Material, wie ihre Hände fassen können“. Merz suchte mit diesen Tonskulpturen nicht nach Ähnlichkeiten, sondern nach der Essenz von dem, was Porträt bedeuten kann. Mit Kupferdrahtgittern in variablen Dimensionen verspannte sie zugleich ganze Räume, die sie sich damit kühn aneignete. Werkteile solcher temporärer Installationen verwendete sie wieder. So gibt es in Bern, hinter den aufgesockelten „Teste“, eine Wand, bestückt mit gestrickten Kupferdrahtquadraten. Es sind Elemente einer Wandarbeit, die 1976 auf der 37. Venedig-Biennale gezeigt wurde.
Obwohl Marisa Merz bereits 1982 bei der Documenta 7 vertreten war, musste sie auf späte breitere Anerkennung warten. Dieses Schicksal verbindet sie mit Künstlerinnen wie Louise Bourgeois oder Eva Hesse, deren Schaffen ebenfalls lange ignoriert wurde, weil es sich nicht den – ja umstandslos als Avantgarde anerkannten – Standards männlicher Kunstproduktion einfügte. Für Merz änderte sich das erst nachhaltig, als sie 2013, gemeinsam mit Maria Lassnig, von der 55. Venedig-Biennale mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk geehrt wurde.
Für Bern bestand die besondere Aufgabe darin, sagt die Kuratorin Livia Wermuth, dass es sich um die erste Ausstellung nach Marisa Merz’ Tod handelt. Eine stringente Chronologie ist schon deshalb nicht möglich, weil Merz ihre Arbeiten nicht nur nie signierte, sondern auch fast nie datierte, um so deren übergreifenden, ständig im Fluss befindlichen Zusammenhang anzuzeigen. Deshalb ordnete Wermuth die rund 80 Werke in fünf unterschiedlich großen Räumen nach Kriterien an, die für Assoziationen anschlussfähig sind und der prinzipiellen Offenheit von Merz’ Œuvre entsprechen: Stille und Bewegung. Räume des Profanen. Im Reich Dazwischen. Räume des Sakralen. Der Himmel ist ein weiter Raum.
Dem Himmel, der Spiritualität scheint die Künstlerin in fortgeschrittenem Alter immer näher gerückt zu sein. In der Amalgamierung von Abstraktion und Figürlichkeit entstehen großformatige Zeichnungen von – vielleicht – Engeln, von Gestalten, die ihre Abstammung in den religiösen Meisterwerken der Renaissance haben, bis hin zum Blau des Schleiers auf Antonello da Messinas „Verkündigung“. Und am Ende lächelt sibyllinisch die „Madonna di marte“ herunter von ihrer Mischtechnik auf Reispapier, in Pink und Gold und Lippenstift für den Mund. Eine Madonna vom Mars, denkt man, kann für Marisa Merz keine Unmöglichkeit dargestellt haben.
„Marisa Merz. Ascoltare lo spazio / In den Raum hören“,
Kunstmuseum Bern,
bis 1. Juni 2025