Kunstwissen

Stilkunde: Anamorphosen

Aus dem Griechischen abgeleitet, bezeichnet Anamorphose eine absichtlich nach den Gesetzen der Perspektive verzerrte Darstellung, die nur unter einem speziellen Blickwinkel beziehungsweise mithilfe besonderer Spiegel oder eines Prismensystems zu verstehen ist. 

Von Gloria Ehret
03.05.2016

Nur aus einem bestimmten Blickwinkel ist der große ver­zerrte Totenschädel in seinen richtigen Proportionen zu er­kennen, der im Vordergrund der „Gesand­ten“ über dem Steinboden schwebt. Hans Holbein d. J. hat dieses Gemälde 1533 datiert. Über ein Jahrhundert später taucht der Be­griff „Anamorphose“ erstmals in Caspar Schotts 1657 in Würzburg erschienener „Magia universalis naturae et artis“ auf. Aus dem Griechischen abgeleitet, bezeichnet er eine absichtlich nach den Gesetzen der Perspektive verzerrte Darstellung, die nur unter einem speziellen Blickwinkel (Längsanamorpho­sen) beziehungsweise mithilfe besonderer Spiegel (katroptische Anamorphosen) oder eines Prismensystems (dioptrische Anamor­phosen) zu verstehen ist. Ob Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer oder Holbein – zwi­schen 1490 und 1540 setzten sich Künstler der Renaissance mit den Problemen der Perspek­tive auseinander. Damit ging die Erfindung der Anamorphose einher.

Hat Leonardos Skizze eines verzerrten Kinderkopfes eher experimentellen Charakter, so erfüllt Holbeins Totenkopf auf dem Ge­sandtenporträt höchste künstlerische Ansprü­che. Selbst in die Literatur fanden die ver­schlüsselten Perspektivbilder Eingang, wie in Shakespeares Drama „König Richard II.“ nachzulesen ist. Georg Füsslin und Ewald Hentze zeigen in ihrem 1999 erschienenen Buch „Anamorphosen“ einen Stich von Hans Tröschel, um 1625, der eine Gruppe Satyrn beim Betrachten einer Zylinderanamorphose schildert und auf ein Gemälde Simon Vouets zurückgeht. Da es solche schon um 1580 in China gegeben haben soll – lange bevor sie in Europa bekannt wurden –, könnte Vouet, der zur Entourage des französischen Botschafters in Konstantinopel gehörte, ihre Kenntnis von dort mit nach Hause gebracht haben.

Dürers Holzschnitt mit dem „Perspektivapparat“ von 1525 taucht rund einhundert Jahre später als Möbeleinlage aus graviertem Silber an dem Gustav-Adolf-Kunstschrank auf, den der Augsburger Rat für den schwedischen König in Auftrag gab und der sich heute in Uppsala befindet. Zudem enthält die Ausstattung des Kunstschrankes eine Zylinder-Spiegelanamorphose mit der Darstellung eines Kavaliers in Öl auf Kupfer.

Das 17. Jahrhundert erlebte einen europaweiten Boom dieser Augenspiele, sowohl was die optischen Spielereien selbst betraf als auch Publikationen zum Thema. So haben Athanasius Kircher, Kaspar Schott oder Georg Philipp Harsdorfer die optischen Phänomene populärwissenschaftlich aufbereitet, und Jean-François Niceron lieferte 1646 in Paris Konstruktionszeichnungen für eine Pyramiden- beziehungsweise eine Konusanamorphose zum Falten. Im 18. Jahrhundert avancierte Augsburg, die Stadt der Instrumentenbauer, Kupferstecher und Grafikverlage, zu einem führenden Zentrum der Herstellung von Anamorphosen, denen Thomas Eser sich wiederholt ausführlich gewidmet hat. Das Themenspektrum reicht von belehrend bis belustigend und ist mit religiösen, mythologischen, historischen, volkstümlichen oder karikierenden Sujets ebenso breit gefächert wie das künstlerische Niveau.

Im 19. Jahrhundert entstanden Anamorphosen nach mechanisierten Reproduktions- und Druckmethoden in hohen Auflagen für ein breites Publikum.

Um 1720 entwickelten sich Spiegelanamorphosen dank ihrer kommerziellen Herstellung rasch zu den beliebtesten optischen Bildbelustigungen. Eine Serie mit Tierdarstellungen des Nürnbergers Christoph Weigel bereicherte Joseph Friedrich Leopold in Augsburg um Elefant und Raubkatze. Gerät und Grafik wurden immer gemeinsam angeboten, denn sie mussten ja exakt aufeinander abgestimmt sein. Als Entwerfer und Verleger betätigten sich Mathematiker, Architekten, Kupferstecher, Bildhauer und Hersteller optischer Geräte. Georg Friedrich Brander, der Laboratorien, Sternwarten und physikalische Kabinette belieferte, bot zwischen 1750 und 1780 zu seinen hochpreisigen Fernrohren und Präzisionswaagen auch solche Augenspiele als Kuriosum an, ebenso wie sein Schwiegersohn und Nachfolger Christoph Kaspar Höschel, von dem das Germanische Nationalmuseum Entwürfe für Pyramiden-Spiegelanamorphosen besitzt.

Die Liste der Hersteller ist lang. Dazu gehören der experimentierfreudige Universalhandwerker Daniel Volkert oder der Grafiker Elias Baeck. Originell sind Ansichten des Augsburger Rathauses und der Stadtbefestigung von Johann Thomas Kraus. Christian Heinrich Weng wird die anspruchsvollste Augsburger Serie mit großformatigen mythologischen Szenen, teils nach Annibale Carraccis römischen Deckenfresken im Palazzo Farnese, um 1600, zugeschrieben. Im 19. Jahrhundert entstanden Anamorphosen nach mechanisierten Reproduktions- und Druckmethoden in hohen Auflagen für ein breites Publikum. Der Nürnberger Stecher Johann Michael Burucker brachte um 1800 technisch und handwerklich gekonnte, jedoch künstlerisch anspruchslose Konusanamorphosen auf den Markt. 1814 annoncierte der Frankfurter Kunstverlag G. V. Albert „Optische illuminierte Kupferstiche in Form eines Kegels, welche verzerrte Figuren vorstellen, die aber regelmäßig erscheinen, wenn man sie aus einem gewissen Punkt betrachtet“. Und der Nürnberger Spielwarenhändler Bestelmeier bewarb in seinen Verkaufskatalogen dioptrische Anamorphosen, etwa gleichzeitig wurden solche in Großbritannien als ganzer Satz mitsamt der Betrachtungsapparatur, einem eleganten Holzkasten mit schöner Maserung, angeboten. Als Kinderspielzeug haben Anamorphosen bis heute überlebt.

Diesen Beitrag finden Sie in der WELTKUNST Nr. 110 / Januar 2016

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