Der Glanz, das Rätsel und der Tod: Im Barock strahlte die Kunst aus Neapel in den schillerndsten Farben. Mit der Ausstellung „Caravaggios Erben“ erinnert das Museum Wiesbaden an einen Höhepunkt der europäischen Malerei, der lange vergessen war
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14.10.2016
Sein Name ist wie ein Komet, der seit vierhundert Jahren nicht verglüht. Hell strahlt er am Firmament der Kunst. Aber nicht nur dort. Neben dem Stadtpatron Januarius wird der Maler Caravaggio in Neapel wie ein Heiliger verehrt. Ähnliche Begeisterung erfuhr sonst nur der Fußballer Maradona. Die zwei in einem Atemzug zu nennen ist weniger absurd, als es auf den ersten Blick erscheint. Beide gaben der Stadt am Fuße des Vesuv, was ihrer Natur entspricht und tief in der Seele ihrer Bewohner verankert ist: großes Drama. Und dass Caravaggio eigentlich ein Lombarde war und aus dem kühlen Norden stammte, zeigt nur, dass man hier mit Klischees nicht weit kommt.
Die Umstände seines Aufenthalts sind ungewiss. Man weiß noch nicht einmal, wann genau er nach Neapel kam. War er auf der Flucht? Eher nicht, sagt heute – anders als früher – die Wissenschaft. Doch um darauf verlässliche Antworten zu erhalten, ist man wie bei jedem guten Krimi auf Indizien angewiesen. Bekannt ist, dass am 6. Oktober des Jahres 1606 von einem Nicolò Radolovich bei der Banco di Sant’Eligio eine Summe in Höhe von 200 Gulden für Caravaggio eingezahlt wurde. Bestimmt war das Geld für ein Gemälde, mit dem Radolovich seine Erhebung in den Adelsstand zu feiern gedachte, eine Madonna mit dem Kind und den Heiligen Dominikus, Franziskus, Vitus und Nikolaus. Drei Wochen später hob der Urheber dieses inzwischen verschollenen Werks 150 Gulden davon ab und gab sie auf sein eigenes Konto – diese Überweisung ist die erste konkrete Spur, die Michelangelo Merisi da Caravaggio in Neapel hinterlassen hat.
Es sollte beileibe nicht die letzte sein. Die Ankunft eines in Rom so gefeierten, von den mächtigen Fürsten Colonna protegierten Malers stellte für die bis dahin in der Hinsicht nicht verwöhnten neapolitanischen Künstler ein Ereignis spektakulären Ausmaßes dar. Danach war nichts mehr wie zuvor.
Die enorme Wirkung, die Caravaggio in Neapel hatte, und die Entwicklung, die von da an ihren Lauf nahm, beleuchtet ab Mitte Oktober die groß angelegte Ausstellung „Caravaggios Erben“ im Museum Wiesbaden. Rund 200 Gemälde und Zeichnungen haben die Kuratoren dafür aus Museen und Privatsammlungen in ganz Europa und den USA entleihen können. Das Thema liegt offenbar gerade in der Luft. Außer in Wiesbaden nehmen sich im Moment noch drei weitere prominente Museen der Kunst Caravaggios und seiner Nachfolger an. Das Metropolitan Museum in New York zeigt Werke des französischen Caravaggisten Valentin de Boulogne. In London widmet sich die National Gallery in ihrer Schau „Beyond Caravaggio“ ebenfalls Caravaggio und seiner Schule. Am Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid ist soeben die Ausstellung „Caravaggio and the Painters of the North“ zu Ende gegangen. Das mag Zufall sein. Caravaggio hat immer Konjunktur. Vielleicht ist es aber auch so, wie Peter Forster, der Kurator des Museum Wiesbaden, sagt. Ihn erinnern die Schönheit und Brutalität der neapolitanischen Kunst des Frühbarocks stark an „die Bildkommunikation der Gegenwart“, wo man ja auch einiges Brachiales per Internet frei Haus geliefert bekommt. Womöglich ist das alles aber auch nicht so entscheidend. Für den deutschsprachigen Raum ist die Wiesbadener Ausstellung jedenfalls ein Meilenstein, denn einen solchen Überblick über den neapolitanischen Barock gab es hier noch nie zu sehen. Dafür hat man sich der Kooperation des Museo di Capodimonte in Neapel versichert, das wahrscheinlich über die besten Bestände zur Kunst der Epoche weltweit verfügt. Andere eminente Leihgeber sind die Royal Collection in Windsor und die Graf Harrach’sche Familiensammlung, die unmittelbar auf die österreichischen Habsburger zurückgeht.
Caravaggio selbst ist in Wiesbaden lediglich mit einem Bild vertreten, und das auch nur in einer Kopie aus der Gemäldegalerie Alte Meister in Kassel, dem „David mit dem Haupt des Goliath“. Doch das heißt nicht, dass die Besucher auf grandiose Kunstwerke verzichten müssen, im Gegenteil. Unter den Leihgaben sind herausragende, verstörende, bizarre Arbeiten von Malern wie Jusepe de Ribera, dem rätselhaften Salvator Rosa oder der großen, singulären Artemisia Gentileschi. Und natürlich darf auch Giovanni Battista Caracciolo nicht fehlen. Caravaggio, der mit seinem drastischen Realismus und dem Helldunkel, dem Eros, der Sinnesfreude und dem Kitzel seiner Gemälde schon zu Lebzeiten den Ruf als größter Künstler Italiens der Epoche genoss, wachte eifersüchtig darüber, dass ihn kein anderer nachahmte. Noch im Jahr 1603 hatte er in Rom einen in der Kunstgeschichte berühmt gewordenen Prozess gegen den Maler Giovanni Baglione angestrengt, weil er sich und seinen Malstil von Baglione „verleumdet“ sah. Bei Freunden aber war Caravaggio bereit, Ausnahmen zu machen. So gilt Giovanni Battista Caracciolo, Battistello genannt, als der erste Caravaggist. Mit einem halben Dutzend Arbeiten ist er in der Ausstellung präsent, und dasjenige Bild, bei dem Battistello die Gestaltungsprinzipien seines Freundes und Meisters am schönsten sublimiert hat, stammt aus der Berliner Gemäldegalerie. Es ist das Doppelporträt zweier Ärzte als die Heiligen Cosmas und Damian. Am linken Rand der Leinwand erkennt man einen Stapel Bücher und einen Totenkopf: Hinweise auf die Gelehrtheit der Dargestellten und das Symbol der Vergänglichkeit, das gerade in Neapel vor Kirchen allgegenwärtige Memento mori.
Battistellos Bildaufbau ist typisch für die neapolitanische Kunst nach Caravaggio: einfach und kompliziert zugleich. Das Licht kommt wie von einem Scheinwerfer am Boden von links unten, wodurch das Gesicht der linken Figur fast komplett verschattet wird. Da beide Schwarz tragen und sich die Farbpalette auch sonst auf erdige Brauntöne beschränkt, lenkt nichts ab von der Hauptsache im Bild: dem Ballett für vier feingliedrige Pianistenhände und zwei jugendlich-ernste Antlitze, das der Maler hier aufführt. Es ist das Sichzudrehen und Voneinanderabwenden zweier Menschen im angeregten Gespräch, unterbrochen von Phasen des Nachdenkens, komprimiert in einem einzigen Augenblick, dem Gemälde. Diese Theatralik erschöpft sich nicht im kunstvollen Effekt. Sie lässt einen unmittelbar teilhaben an der Unterhaltung der beiden – und genau darum geht es ganz grundsätzlich bei den neapolitanischen Künstlern. Lebhafte Gesten und unverstellte, auffordernde Blicke; der Dreck an Fußsohlen und unter den Fingernägeln: Sie dienten dazu, den Betrachtern die Bilder aufzuschließen, ihnen Zugang zu verschaffen und eine Brücke zu schlagen von ihrer Realität zur Realität der Leinwand.
Auf Battistello folgten nach Caravaggios Tod 1610 im toskanischen Porto Ercole noch viele. Mit ihren Kabinettstücken im Helldunkel spärlich beleuchteter Räume trafen sie den im katholischen Italien damals gewünschten Ton der Gegenreformation. Dass Neapel im 17. Jahrhundert streng genommen gar nicht zu Italien gehörte, sondern unter spanischer Herrschaft stand, bevor es die Wiener Habsburger und danach die französischen Bourbonen übernahmen, tut dem keinen Abbruch. Es fügt der ohnehin komplexen Ausgangslage bloß ein paar weitere verkomplizierende Elemente hinzu.
Denn bei Neapel handelte es sich nicht nur um irgendeine latent verrückte Stadt am Fuß eines aktiven Vulkans. Mit rund 250.000 Einwohnern war sie die zweitgrößte Metropole Europas, mehr als doppelt so groß wie Rom und London. Nur in Paris lebten zu der Zeit noch mehr Menschen. Und die Verhältnisse waren prekär. Wenige, vor allem der hohe Klerus und der alte Adel, besaßen enorme Reichtümer, während die meisten ihren Alltag in Not und Armut verbrachten. Die Reichen garantierten den Malern unablässig neue Aufträge. Die Armen erinnerten sie an das nackte Fundament irdischer Existenz. Dazu kamen politische Umwälzungen und Naturkatastrophen. 1631 brach der Vesuv aus mit einer Heftigkeit wie seit der Zerstörung von Pompeji und Herculaneum nicht mehr. 1647 wurde die Stadt Schauplatz einer Volksrevolte, des sogenannten Masaniello-Aufstandes, der zur Gründung der Republik Neapel führte, die jedoch nur wenige Tage bestand. Neun Jahre darauf suchte die Menschen eine verheerende Pest heim. In Neapel brodelte es, und diese Spannungen meint man noch immer in den Bildern zu spüren. Artemisia Gentileschis „Judith und Holofernes“ etwa ist an Drastik und Direktheit kaum zu übertreffen. Tatkräftig unterstützt von ihrer auf die gemeinsame Sache überaus konzentrierten Magd trennt die alttestamentarische Kaufmannstochter dem assyrischen Feldherrn mit der Präzision eines Chirurgen und der Entschlossenheit eines Schlachters die Kehle durch. Blut in Strömen, Agonie im Blick – man sträubt sich ein wenig, dies als lebensnah zu empfinden, aber genau das war es wohl.
Oder Jusepe de Ribera, der Spanier, der sich in Neapel einen Namen für die Ewigkeit machte. Mit Körpern wie menschliche Irrlichter – blass und dürr und ausgemergelt – lässt er seine Heiligen aus dem asketischen Dunkel des Hintergrundes hervortreten. Und auch ist nicht ganz klar, was man mehr bewundern soll: die ekstatische Verzückung des Märtyrers im Angesicht der bevorstehenden Heimholung ins Paradies. Oder die planvolle Geschäftsmäßigkeit, mit der die Folterknechte darauf achten, dass auf dem Weg dahin bloß nichts schiefgeht.
Eine sogar in diesen extravaganten Kreisen ganz und gar einzigartige Figur aber war Salvator Rosa, von dem die Wiesbadener für ihre Ausstellung sieben Zeichnungen und drei Gemälde herbeischaffen konnten. Eines davon, die „Landschaft mit Soldaten“, wurde erst kürzlich im Zuge der Ausstellungsvorbereitungen als eigenhändiges Werk des Künstlers identifiziert. Rosa, ein gebürtiger Neapolitaner, der die meiste Zeit seines Lebens in Florenz und Rom zubrachte, zählte bereits zur zweiten Generation der Caravaggisten. Ihm wurde postum alles Mögliche angedichtet, von der Beteiligung am Masaniello-Aufstand bis zu einer geheimen zweiten Laufbahn als Räuber und Bandit.
Was davon zutrifft, ist nach heutiger Kenntnis nicht zu sagen. Jedenfalls hat auch er dieses spezielle Fluidum eines morbiden Realismus in seinen Gemälden, allerdings mit einem Unterschied: Rosa malt, anders als es sein Name vermuten lässt, die Welt anscheinend nach der Apokalypse. Umherirrende, kartenspielende, zerlumpte Soldaten bevölkern seine Landschaften, manchmal verstecken sie sich in Felsenhöhlen. Ein Bild aus einer neapolitanischen Privatsammlung stellt einen „Hexentanz“ dar, mit schnabelgesichtigen, geflügelten Skeletten und einer gebeugten Alten mit Hängebrüsten und Blumen und Früchtekranz im Haar. Einfälle dieser Art brachten ihm völlig zurecht den Ehrentitel „Meister des düsteren Pinsels“ ein.
Doch diese Ausstellung hat noch mehr zu bieten. Neapel war als Metropole ein melting pot, der Künstler aus ganz Europa anzog: die Utrechter Caravaggisten Honthorst und Stomer ebenso wie den Franzosen Simon Vouet und Johann Heinrich Schönfeld, den nach Johann Liss größten deutschen Maler des Barocks, der, geboren in Biberach an der Riss, auf einem Auge blind, den rechten Arm seit der Geburt gelähmt, 1633 vor dem Dreißigjährigen Krieg nach Italien floh. Dort lebte er die folgenden 16 Jahre, bevor er sich als hochgeachteter Bürger in Augsburg niederließ. Die Kuratoren des Museum Wiesbaden werden dieser langsam sich entwickelnden Vielfalt gerecht, in dem sie auch die prächtigen Stillleben eines Paolo Porpora oder des namentlich nicht bekannten „Metropolitan Master“ in ihr Ausstellungskonzept integriert haben. Je weiter man sich bei der neapolitanischen Kunst des 17. Jahrhunderts zeitlich von Caravaggio entfernt, desto diverser werden die Malweisen und Genres – untrügliches Zeichen für eine selbstbewusste, erfolgreiche Künstlerschaft.
Am Ende wurde ihre Malerei zum Exportschlager, der weit über Neapels Grenzen hinaus gefragt war. Als Kronzeugen führen die Wiesbadener Luca Giordano an. Der stand nicht nur im Ruf, jeden gewünschten Stil perfekt kopieren zu können. Er produzierte Gemälde offenbar auch am Fließband, weshalb man ihn Fa Presto nannte („mach schnell“). So entsteht vor dem inneren Auge des Betrachters das Bild einer Stadt, in der die Kunst nicht nur blühte, sondern auch Blüten trieb. Und das nur, weil ein berühmter Mann in temporären Schwierigkeiten hier einmal für ein paar Monate Station machte und ein paar Freunden erlaubte, so zu malen wie er. In Neapel danken sie es ihm heute noch.
Museum Wiesbaden, Hessisches Landesmuseum, „Caravaggios Erben. Barock in Neapel“, 14. Oktober 2016 – 12. Februar 2017