Fotografien von Sibylle Bergemann

Der besondere Blick

Ihre Modefotos und Alltagsaufnahmen machten sie zur bedeutendsten Fotografin der DDR, gerade weil diese Bilder oft eine zeitlose Dimension haben. Wir sprachen mit ihrer Tochter Frieda von Wild und Enkelin Lily

Von Matthias Ehlert
26.04.2017

Gut eine Stunde braucht man von Berlin nach Gransee im Norden Brandenburgs. Hier hatten Ende der 1970er-Jahe Arno Fischer und Sibylle Bergemann ein Haus erworben, in dem sie viele Sommer verbrachten und später ganz lebten. Die beiden waren das berühmteste Fotografenpaar der DDR. Sibylle Bergemann, Jahrgang 1941, hatte 1966 den vierzehn Jahre älteren Fischer kennengelernt, der ihr Lehrer und Lebenspartner werden sollte. Er ermutigte sie dazu, als freie Fotografin zu arbeiten. Ihre ab den Siebzigern entstandenen Fotografien für die Modezeitschrift „Sibylle“ und die Wochenzeitung „Sonntag“ zeichnen sich durch einen besonderen, zuweilen melancholischen Blick auf den DDR-Alltag aus und wurden inzwischen in zahlreichen Ausstellungen weltweit gezeigt. 2010 verstarb Sibylle Bergemann, die 1990 die Fotoagentur Ostkreuz mitgegründet hatte, nach langer Krankheit. In dem Haus in Gransee wohnt heute ihre Tochter Frieda von Wild, die sich gemeinsam mit ihrer Tochter Lily und der Loock Galerie um den Nachlass der Fotografin kümmert. Wir trafen die beiden dort zum Gespräch.

Sibylle Bergemann
Eine Wohnung im Typus P2 aus dem Jahr 1981. © Estate Sibylle Bergemann/OSTKREUZ

In diesem Jahr wäre Sibylle Bergemann 75 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass erscheint  im Kehrer Verlag ein Buch mit bisher weniger bekannten und unbekannten Fotografien von ihr, im Frühjahr wird ihr Werk in gleich drei Ausstellungen in Berlin präsentiert. An all diesen Projekten sind sie beide stark beteiligt. Was hat Sie bewogen, sich so intensiv mit dem Nachlass Ihrer Mutter beziehungsweise Großmutter zu beschäftigen?

Frieda von Wild: Wir haben das besprochen auf ihrem Sterbebett. Wer das machen, wer das übernehmen könnte. Ostkreuz, ihre Agentur, hätte gar nicht die Kapazität dafür, den Nachlass aufzuarbeiten. Vielleicht wäre die Akademie der Künste noch in Frage gekommen … Aber ich bin noch nicht so weit, das jemand Fremdem zu überlassen. Wie viel Arbeit das tatsächlich ist und dass da nicht mehr viel von meiner Zeit übrig bleibt, habe ich allerdings unterschätzt.
Lily von Wild: Es ist wirklich viel. Ich habe das ganze letzte Jahr damit verbracht, die hinterlassenen Bilder zu digitalisieren und zu archivieren. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass es weniger geworden sind.

Wie haben Sie denn den Nachlass vorgefunden? Gab es so etwas wie ein System?

L: Also am Anfang hat man gar nichts gefunden! Du hast früher fast eine Woche gesucht nach einem Bild.
F: Meine Mutter hat immer mal wieder versucht, Ordnung reinzubringen, es chronologisch oder nach Themen zu sortieren. Sie hat es dann aber gerne mal selber wieder durcheinandergebracht, wenn sie etwas gesucht hat.

Das ist eine große Verantwortung, die Sie sich da aufgebürdet haben. Zumal auch bei Ihnen die Entscheidung liegt, welche noch unveröffentlichten Bilder Sie zur Veröffentlichung freigeben.

L: Das ist für uns ein ganz wichtiger Punkt. Hätte Sibylle Bergemann gewollt, dass man sich über ihre Kisten mit Fotos beugt und anfängt diese zu sortieren? Und da glaube ich, es gibt eigentlich fast niemanden, bei dem sie das gewollt hätte, außer bei uns. Denn wir beide – also Frieda noch mehr als ich – waren ja schon immer in ihre Arbeit involviert. Es war ja nicht so, dass sie Fotos gemacht hat und man sich ansonsten nur zum Geburtstag sah. Ich bin selbst manchmal mitgefahren, wenn sie fotografieren war.
F: Eine große Schwierigkeit ist, dass wir wissen, welche Bilder sie gemacht, aber niemals gezeigt hat. Da muss man zum Beispiel bei den Berlinbildern aufpassen, dass man nicht so ein Zeitzeugending draus macht. Also Fotos von Ecken veröffentlicht, die es so nicht mehr gibt und die man spannend findet. Aber die vielleicht gar nicht ihrem Anspruch genügt hätten.
L: Es gibt Bilder, die wir beide sehr schön finden, aber es gibt auch einen Grund, warum sie bisher nicht veröffentlicht sind. Zum Beispiel, weil sie gesagt hat, sie fände sie nicht schön. Jemand anders würde sie dann vielleicht ausstellen, aber wir entscheiden uns meistens dagegen. Weil es uns am wichtigsten ist, in ihrem Sinne zu arbeiten.

Sibylle Bergemann Katharina Thalbach
Katharina Thalbach in Berlin 1974. © Estate Sibylle Bergemann/OSTKREUZ. Courtesy Loock Galerie, Berlin

Wie kritisch war denn Sibylle Bergemann selbst mit ihren Bildern?

L: Also wenn sie Fotos gemacht hat von mir oder mich irgendwo mit hingenommen hat und mir hinterher die Bilder gezeigt hat, fand ich die eigentlich alle relativ toll. Aber bei ihr musste es schon wirklich toll sein, damit da mal ein Bild ausgesucht wurde. Sie hat einmal zu mir gesagt, einen Fotografen zeichne aus, dass er ganz viele Bilder macht und sich am Ende für das EINE Bild entscheidet. Arno Fischer, ihr Mann, hat mir lustigerweise das genaue Gegenteil erzählt: Als Fotograf machst du ein Bild und dieses eine Bild muss gut sein, sonst bist du kein Fotograf.
F: Sie war schon sehr kritisch und hat jede Menge Material verbraucht. Wichtig war für sie, dass das Bild eine Wahrheit enthält, dafür konnte es sogar etwas unscharf sein.

Wie ist sie denn beim Fotografieren vorgegangen?

F: Sie ist schon besessen gewesen. Aus dem Morgenmantel lugte die Minox, und auch auf dem Beifahrersitz lag die Kamera immer griffbereit. Wenn sie was gesehen hatte, dann hieß es: volle Konzentration. Dann ging man in Deckung oder machte sich irgendwie nützlich. Damit sind wir praktisch aufgewachsen. Das Fotografieren hat schon vieles dominiert. Wir haben ganz früher in einer kleinen Wohnung in der Hannoverschen Straße gelebt, wo die Hälfte der Küche als Dunkelkammer abgetrennt war. Und ich kann mich erinnern, dass ich, wenn ich mit meiner Mutter reden wollte, ganz oft in der Küche auf der alten Küchenmaschine saß, und sie war in der Dunkelkammer. Wir haben sozusagen viel im Dunkeln geredet.

So ein Foto wie das von Ihnen, Lily, in dem alten Bauwagen, mit dem wir unser Portfolio eröffnen, wie ist das entstanden? Sind Sie da spontan hineingeklettert, oder war da auch ein wenig Inszenierung dabei?

L: Das war ein verrotteter Bauwagen, der hier auf den Feldern stand und in dem die Landarbeiter früher Pause gemacht haben. Sie hat mich gefragt, kannst du da reingehen und durch die Scheibe gucken? Ich habe mich erst geweigert, es aber dann gemacht, obwohl es für mich schon gruselig war. Man sieht ja auf dem Foto, dass ich mich nicht ganz so wohl fühle, aber das war durchaus gewollt. Hinterher gab es meist ein Eis.

Sibylle Bergemann
Marisa und Liane in Sellin 1981. © Estate Sibylle Bergemann/OSTKREUZ

Haben Sie noch Erinnerungen an die berühmte Wohnung am Schiffbauerdamm, in der Sibylle Bergemann und Arno Fischer bis 2004 lebten und die zu DDR-Zeiten ein Treffpunkt der Fotografenszene war?

F: Ja, jeden Abend war die Bude voll mit Fotografen und anderen Menschen. Im Albrechtseck unten konnte man damals noch mit einem Krug Bier holen, und dann haben sie bei uns gesessen und getrunken und geraucht und sich ihre Bilder gezeigt. Praktisch überall lagen Bilder herum. Wenn man eine Zeitung aufhob, lagen darunter Fotos.

Von der Wohnung konnte man direkt auf den Grenzbahnhof Friedrichstraße schauen. Hatte Ihre Mutter, die ja später so gern gereist ist, damals schon Fernweh?

F: Arno Fischer konnte damals schon öfter reisen, aber meine Mutter hatte viel seltener die Gelegenheit. Ein Deal zwischen uns zu DDR-Zeiten war, dass ich meinen Ausreiseantrag erst dann stelle, wenn sie mit Arno zusammen in New York gewesen war. Dafür musste man lange beim Künstlerverband kämpfen. Und als es dann geklappt hat, sind sie ohne einen Pfennig nach New York geflogen und haben davon gelebt, dass Arno dort seine alten Kameras verkaufte. Nach der Wende hatte sie das Glück, dass die Zeitschrift Geo sie entdeckte und in die Welt geschickt hat.

Auf dem letzten Bild, das wir in unserem Portfolio zeigen, ist eine afrikanische Frau zu sehen. Können Sie etwas zum Entstehen dieses Fotos sagen?

F: Sie war zu ihrer ifa-Ausstellung nach Dakar eingeladen, da ging es ihr schon nicht mehr gut. Und auch die ganze Reise war nicht so positiv. Aber für ebendieses Bild hat die Mühe sich doch gelohnt. Darum hat sie richtig gekämpft. Sie kenne den Preis, hat sie gesagt, ausruhen könne sie sich später.
L: Ich kann mich noch erinnern, wie sehr sie sich über das Bild gefreut hat, als sie wiederkam, obwohl sie völlig fertig war.

Gab es – obwohl Sie Ihre Mutter und Großmutter so gut kannten – auch Überraschungen beim Sichten des Nachlasses?

F: Man sieht es nicht immer auf Anhieb, aber es ist wirklich auf vielen Fotos ein Hund zu sehen. Ich glaube, Hunde waren oft auch der Grund, die Kamera hochzunehmen. Und dann vielleicht auch noch diese Schrottautos am Straßenrand …
L: Bei mir waren es die Berlinbilder, weil ich so etwas eher mit Arno verbunden habe. Das war dann so ein Aha-Effekt, dass sie auch auf der Straße fotografiert hat, aber mit ihrem besonderen Blick, ihrem Humor. Aber den haben wir nicht neu entdeckt!

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Weltkunst Nr.120/2016

BÜCHER

Frieda von Wild, Lily von Wild, Loock Galerie (Hrsg.), Sibylle Bergemann, 188 Seiten, 22 Farb-, 3 S/W- und 81 Duplexabb., Kehrer Verlag, 2016, Euro 48,–

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