Kunstwissen

Kunst für die Leute: Andres Veiels Hommage "Beuys"

Andres Veiel hat einen großen Dokumentarfilm über Joseph Beuys gemacht. Zum 99. Geburtstag des Jahrhundertkünstlers haben wir diese Hommage wieder angeschaut

Von Simone Sondermann
15.02.2017

Was interessiert die Leute? Joseph Beuys sitzt zu Beginn des Films auf einem Stuhl in einem kargen Raum und blickt direkt in die Kamera. Er erklärt, wie er die Kluft zwischen sich und dem Zuschauer überbrückt, dass man, wenn man einen Raum voller Leute betritt, ein Gespür dafür bräuchte, was die Menschen bewege. Welche Frage haben sie? In den folgenden 107 Minuten wird man Beuys meistensteils umringt sehen von ebendiesen Leuten, seinen Schülermassen in der Düsseldorfer Kunstakademie, Schaulustigen beim Eichenpflanzen auf der documenta oder dem streitlustigen Publikum einer Podiumsdiskussion. Um Beuys, den Kommunikator, den Gestalter der „sozialen Plastik“ und seinen unbändigen Veränderungswillen geht es in diesem Film.

Die Essenz aus 400 Stunden Filmmaterial

Was bleibt von seinen Ideen der radikalen Demokratisierung der Kunst, seinem Neudenken des Kapitalbegriffs und seinem Glauben an die kreative Kraft jedes Einzelnen – jenseits der Musealisierung seiner Happenings, die schon vor seinem Tod 1986 begonnen hat? Um dies herauszufinden hat der Regisseur Andres Veiel, der mit dem preisgekrönten Dokumentarfilm „Black Box BRD“ von 2001 auch einem breiten Publikum bekannt wurde, 400 Stunden Filmmaterial gesichtet, dazu zahllose Fotos und Audiobänder, darunter vieles, was noch nie öffentlich gezeigt worden ist. Am häufigsten kommt darin der Künstler selbst zu Wort, mit seinem typisch weichen rheinischen Idiom. Immer wieder blicken wir in Beuys‘ markantes Kaspargesicht mit den tief liegenden Augen und dem ansteckenden breiten Lachen, mit dem er seinen öffentlichen Auftritten gern genüsslich eine geradezu karnevalistische Note verlieh.

Mehr Demokratie wagen

Der Fokus und Ausgangspunkt des Films liegt auf den 1970er-Jahren, als Beuys auf dem Höhepunkt seines Ruhms analog zu Willy Brandts berühmten Slogan „Mehr Demokratie wagen“ mehr Kunst wagte, eine Kunst, die sich, so sehr sie sich auch aus einem persönlichen, heute mitunter fast esoterisch anmutenden Kosmos speiste, einer kreativen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse verschrieben hat. Wenn man Beuys dabei zuschaut, wie er sich schwitzend und eloquent immer wieder öffentlich zur Schau stellt und angreifbar macht, wie er lachend davon erzählt, wie anonyme Anrufer „Arschloch!“ in sein Telefon brüllen, drängt sich unweigerlich der Vergleich mit der heutigen Debattenkultur im Internet auf, die leider höchstselten von kreativer Auseinandersetzung und dafür umso mehr von hasserfüllten Kurzkommentaren dominiert wird.

Der Mensch Beuys

Es ist ein großes Verdienst von Veiels Film, uns das Niveau der öffentlichen Diskurse, die Beuys geführt und ausgelöst hat – die um seinen legendären Rausschmiss aus der Düsseldorfer Akademie ist da nur ein Beispiel unter vielen – wieder in Erinnerung zu rufen. Auch der Mensch Beuys wird auf berührende Weise erkennbar, wenn neben den bekannten, zur Legende geronnenen Episoden über seinen Flugzeugabsturz im Zweiten Weltkrieg auch die Geschichte seiner frühen Kindheit oder die seiner jahrelangen Depression in den Fünfzigerjahren in Bildern erzählt wird.

Kreative Utopie und Parteienrealität prallten aufeinander

Ein wenig schade ist, dass die fünf Zeitzeugen, die Veiel ergänzend im Film befragt, darunter sein ehemaliger Schüler Johannes Stüttgen oder die mit Beuys eng befreundete Kunsthistorikerin Rhea Thönges-Stringaris, einen ausnahmslos liebenden bis ehrfurchtsvollen Blick beitragen. In einer späten Szene des Films sieht man Beuys 1983 auf dem Parteitag der Grünen, zu deren Gründungsmitgliedern und frühen Aushängeschildern er gehörte. Er wird, anders als er erwartet hatte, nicht für die Liste nominiert, auf der sich dann stattdessen spätere Berufspolitiker wie Otto Schily finden. Schnell springt der Film zur nächsten Szene, wo seine Biografin Caroline Tisdall erläutert, dass es der Versuch sei, der zähle, er sei der eigentliche Erfolg. Diese Deutung des Aufeinanderprallens von kreativer Utopie und Parteienrealität hätte Veiel besser dem Zuschauer überlassen, der genug zu sehen bekam, um seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Ganz im Sinne von Beuys, dass auch das (Selber)Denken soziale Plastik ist.

Zur Startseite