Konkrete Kunst war in der DDR verpönt. Doch Karl-Heinz Adler hat der Doktrin beharrlich widerstanden. Mit fast neunzig Jahren erlebt er jetzt seinen Durchbruch. Wir besuchten den Visionär der reinen Form in Dresden
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31.05.2017
Loschwitz ist idyllisch und Geschichtsträchtig. Schmuck renovierte Villen schmiegen sich in dem Dresdner Vorort in den grünen Hang. Der Blick schweift hinab zum Flussufer, wo gerade ein Ausflugsraddampfer bei der Loschwitzer Brücke, dem „Blauen Wunder“, anlegt. Das Elbtal öffnet sich in einem weiten Panorama, hier oben erscheint die Gegenwart ein wenig entrückt. Früher tobte in Loschwitz die künstlerische Boheme, das zog bis in die späten Achtziger Künstler magisch an. Auch Hermann Glöckner – sächsische Kultfigur und hochverehrter Patriarch einer konstruktiven Kunst, wie sie in der DDR offiziell gar nicht vorhanden war – hatte hier sein Atelier. Doch das ist lange her.
Den minimalistischen Neubau, in dem Karl-Heinz Adler und seine Frau Ingrid leben, hat ihr Sohn Alexander, ein erfolgreicher Nachwende-Unternehmer, errichtet. Adler empfängt uns in blütenweißem Hemd und Wildlederweste. Schon früher, das ahnt man, muss der Künstler mit seiner Prinz-Eisenherz-Frisur eine imposante und geheimnisvolle Erscheinung gewesen sein. Sein schlohweißes Haar und der dichte Vollbart, der jeden Berlin-Hipster vor Neid erblassen lassen würde, erinnern an den Alm-Öhi aus den japanischen „Heidi“-Trickfilmen. Doch sein Gehstock ist ganz städtisch und mit einem eleganten Silberknauf versehen.
„Alt musst du werden und deine Widersacher überleben“, hat sein Lehrer Wilhelm Rudolph ihm einst an der Dresdner Kunstakademie gesagt. So kam es auch. Adlers schnörkelloses, konkretes Werk, die minimalistischen, geometrisch inspirierten Zeichnungen, Collagen, Faltungen und skulpturalen Objekte, aber auch die gemeinsam mit Friedrich Kracht entwickelten baugebundenen Werke werden gerade von der Kunstwelt wiederentdeckt. Mit 89 Jahren widerlegt Adler endgültig all jene, die sich bislang nicht vorstellen konnten, dass solch ein Werk – ähnlich cool und freigeistig wie das von Max Bill oder Sol LeWitt – im oft dumpfen Kunstklima der DDR wachsen konnte. Adler genießt den späten Durchbruch.
Der gebürtige Vogtländer kam 1947 als Zwanzigjähriger ins völlig zerbombte Dresden, um an der Kunstakademie zu studieren. Zuvor hatte er in Plauen eine Ausbildung zum Musterzeichner absolviert. Zu seiner Wahlheimat, in der Traditionsbewusstsein und selbstgefällige Provinzialität oft eigenartige Mischungsverhältnisse eingehen, hat sich Adler ein eher zwiespältiges Verhältnis bewahrt. „Mit Dresden war es oft recht schwierig“, sagt er. „Das war die Barockstadt, die große Kunststadt. Die Dresdner wussten immer alles besser.“ Doch Adler, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung wegen seiner Kunst-am-Bau-Projekte einmal den „Erfinder der Ostmoderne“ nannte, blieb hier, wandte sich Ende der Fünfziger seriellen Verfahren und abstrakt-geometrischen Formen zu und machte einfach immer weiter. So wurde Dresden schließlich zum heimlichen (und einzigen) Zentrum der konkreten Kunst in der DDR. Daran erinnern zu Adlers 90. Geburtstag Ausstellungen im Dresdner Albertinum und im Kassák-Museum in Budapest.
Ein Grund, nach dem 1953 absolvierten Akademiediplom in Dresden zu bleiben, als viele andere wie etwa sein Jugendfreund Gotthard Graubner in den Westen gingen, war eine Assistentenstelle an der Technischen Hochschule. Am Lehrstuhl für Bauplastik brachte Adler zwischen 1955 und 1961 den Architekturstudenten das Aktzeichnen bei. Schon bald reformierte er die Grundausbildung, setzte auf Baukasten-Experimente mit Farbe, Form und Material – ähnlich wie in der Vorlehre am Bauhaus.
Damals war in der DDR der Bezug auf das Erbe der Moderne eine Gratwanderung. Unter Walter Ulbricht forcierte die SED mit ihrer stalinistischen Kulturpolitik eine Kunst und Architektur, die „national in der Form, sozialistisch im Inhalt“ sein sollte. Bis weit in die Sechzigerjahre brandmarkten die Funktionäre den „sogenannten Bauhausstil“ als „Ausdruck einer spätbürgerlichen Ideologie und des Amerikanismus in Westdeutschland“. Für Adlers konkrete Kunst, die einer ästhetischen Weltsprache angehörte, war in solcher Doktrin kein Platz. „Das war eine verschrobene Situation“, erinnert sich Adler. „Mit dieser Kunst durften wir nicht in die Öffentlichkeit treten. Immer hieß es: Das geht nicht. Das passt nicht in unsere sozialistische Weltanschauung.“ Andererseits konnte die DDR auf erfinderische Leute wie Adler nicht verzichten. An der Dresdner Hochschule experimentierte er mit Baustoffen, und 1956 beteiligte er sich an der Entwicklung einer witterungsbeständigen Keramikfliese für die Ost-Berliner Stalinallee, einem Prestigeprojekt des Regimes. Für den Wiederaufbau wurde jeder gebraucht, da kollidierten oft Ideologie und Pragmatismus.
Angeregt durch die Arbeit mit den Architekturstudenten, begann Adler 1957 mit seinen ersten konkret-konstruktivistischen Collagen, den „Schichtungen“. Er fixierte Quadrate, Dreiecke, Halb- und Viertelkreise in geometrischen Ordnungen auf dem Papier. Zunächst in zwei Grundfarben; später, als er Aquarellfarben, Folien oder Glas verwendete, fächerten sich die Flächen in reizvoll diskreten Nuancen der Farbsättigung auf. Vier Faktoren seien für seine Arbeit bezeichnend, schrieb Adler einmal: „das Geheimnisvolle, speziell das Magische, das Rational-Geistige (das Konstruktive bzw. das Gesetzmäßige), das serielle Prinzip, die praktische Anwendung ästhetisch-künstlerischer Erfahrungen“. Bis heute haben sich die frühen „Schichtungen“, die in ihrer Reduziertheit auf nichts anderes als sich selbst verweisen, ihre technizistische Magie bewahrt. In ihrer einfachen Materialität aus Karton und Papier sind sie Zeugnisse ihres Entstehungskontexts und transzendieren diesen zugleich.
Mit ihrem seriellen Ansatz offenbart Adlers Kunst, die natürlich auch aus dem Bauhaus und dem russischen Konstruktivismus schöpft, Schnittstellen zu Ideen der amerikanisch-westeuropäischen Konzept- und Minimalkunst der frühen Sechziger. Weil Westkontakte zu DDR-Zeiten, besonders außerhalb von Berlin, schwierig waren, orientierten sich viele Künstler in die Richtung anderer Ostblockstaaten wie Polen, der Tschechoslowakei oder Ungarn. Dort herrschte ein liberaleres Kunstklima, und konkrete wie konzeptuelle Ansätze fanden leichter ihre Öffentlichkeit.
Am Nachmittag fahren wir ins Atelier des Künstlers in der Dresdner Südstadt. Es ist ein länglicher, schmuckloser Flachbau auf einem Atelierhof, an einer Tür ist mit schwarzem Filzstift „K.-H. Adler“ geschrieben. Dahinter verbirgt sich ein magisches Reich der konkreten Kunst, angefüllt mit Modellen, Materialproben, Zeichnungen, Bildern und Objekten. Ingrid Adler, die lebhaft-resolute Ehefrau, ist als Kunsthistorikerin und Kuratorin seit über fünfzig Jahren das kritische Gegenüber ihres Mannes. Sie hat das Werkverzeichnis mit herausgegeben, nach so vielen Jahren ist sie auch so etwas wie Adlers Managerin. Aus dem Archiv holt sie ein Schablonenholz herbei, lang wie ein Surfbrett, damit ihr Mann seine Produktionsweise der seriellen Lineaturen erklären kann. Höchst präzise, in langen, durchgezogenen Strichen entlang der Ellipsenform zieht er die Linien. Seine ausgeklügelten Kompositionen gleichen Wogen oder Strudeln. „Mit jeder noch so geringen Veränderung ergibt sich ein neues Bild“, erklärt Adler sein serielles Prinzip, aus dem sich eine theoretisch unendliche Bildproduktion ergibt.
Die Politik in der DDR gegenüber der konstruktivistischen und konkreten Kunst war widersprüchlich. Das lag, so analysiert es der Dresdner Kultursoziologe Karl-Siegbert Rehberg, an der Verbindung zwischen der modernen Kunst und der Architektur: „Im Bauen, in der Gestaltung der Fassaden und öffentlichen Plätze gab es ein Feld der verminderten Kontrolle, (…) eine nicht nur programmatisch gedachte Verbindung zwischen Kunst und materieller Produktion.“ So wurden abstrakte oder geometrisierende Bilder, die mit dem propagierten Sozialisten-Realismus nicht das Geringste zu tun hatten, von den staatlichen Instanzen geduldet, anerkannt oder sogar gefördert. Trotzdem erhielt Adler seine erste offizielle Galerieausstellung erst 1982 in Dresden. Und weil den Behörden seine Ästhetik noch immer nicht ins Konzept passte, durfte die Schau nur unter dem irreführenden Titel „Grafik und Entwürfe zur baugebundenen Kunst“ laufen. Noch 1987 wurden Adlers Zeichnungen vom Auswahlgremium der zentralen, traditionell in Dresden stattfindenden „Kunstausstellung der DDR“ unter dem fadenscheinigen Vorwand mangelnder Qualität abgewiesen.
Als Teil der Produktionsgenossenschaft „Kunst am Bau“ feierten Adler und sein Kompagnon Friedrich Kracht hingegen seit Ende der Sechziger große Erfolge mit ihrem „Beton-Formstein-Programm für die plastisch-dekorative Wandgestaltung“. Die Monotonie der Plattenbauten (im Volksmund „Arbeiterschließfächer“ genannt) bekämpften die beiden mit einem variablen Formensystem, aus dem sie Fassaden, Brunnen oder Spielplatzabgrenzungen gestalteten. „Wir hatten immer eine ganze Menge Arbeit“, erzählt Adler. „Künstlerisch war das auch gefragt, natürlich nicht von der Regierung. Aber man kam eben ohne diese Dinge nicht aus. Daraus ergab sich eine gewisse Autarkie für uns.“ So entstanden eigenartig vibrierende Wandflächen und Mauern, manche von ihnen wirken wie gefrorener Schall oder versteinerte Wasserstrudel. Ähnlich wie in Adlers Zeichnungen, und Collagen herrschte auch hier das Prinzip, aus wenigen Grundformen eine möglichst große Vielfalt an Varianten zu erzielen. „Nach der Wende begann die Bilderstürmerei“, sagt Adler nüchtern. „Heute ist fast nichts mehr übrig, der größte Teil wurde entsorgt.“ Wo es die Formstein-Ornamentik noch gibt, ist sie als Kultobjekt längst in Bilder-Blogs von jüngeren Architektur- und Designfreaks dokumentiert.
Jetzt ist Adler in seinem neunzigsten Lebensjahr und längst daran gewöhnt, dass in seinem langen Künstlerleben alles etwas später passiert. Das erste eigene Atelier bezog er mit knapp sechzig, seine erste umfassende Retrospektive richtete ihm 1997 das Essener Folkwang-Museum zum siebzigsten Geburtstag aus. Jetzt laufen die Vorbereitungen für Dresden und Budapest. Seit diesem Frühjahr wird der Künstler von der Galerie Eigen + Art vertreten, im Oktober wird es die erste Ausstellung dort geben. Die frühen Collagen kosten 18.000 bis 24.000 Euro, aber jüngere Zeichnungen sind schon für 2800 Euro zu haben. Große mehrteilige Malereien gehen bis zu 80.000 oder 120.000 Euro.
Die triumphale Renaissance der Zero-Bewegung spielt bei dem wachsenden Interesse an Adler sicher ebenso eine Rolle wie der ohnehin notorische Wettlauf von Kuratoren und Galeristen, verkannte Künstler der Sechzigerjahre-Avantgarde wiederzuentdecken. Und nicht zu vergessen der anhaltende Erfolg einer jüngeren Künstlergeneration mit lässigem Modernismus-Bezug: Katja Strunz, Tomma Abts, Bernd Ribbeck und viele mehr.
In diesem Klima wird immer klarer, was Karl-Heinz Adler ist: eine Jahrhundertfigur der geometrisch inspirierten Kunst. Mit Zielstrebigkeit, Ausdauer, Glück und Geschick hat er seine ästhetische Philosophie durch die Widrigkeiten der deutschen Geschichte manövriert. Unbehelligt haben seine Werke die Zeiten überdauert. Frisch, geheimnisvoll und optimistisch wie eh und je.
Karl-Heinz Adler beim Aufbau seiner Ausstellung „Formung- Zerstörung“, Museum Modern Art Hünfeld, 1997 (Foto: Eigen+Art, Leipzig)
„Karl-Heinz Adler. Ganz Konkret“
Galerie Neue Meister im Albertinum, Dresden
bis 25. Juni
„Getrennte Pfade. Karl-Heinz Adler und die ungarische Abstraktion“
Kassàk Museum, Budapest
bis 17. September