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Unica Zürn: Sagenhafte Surrealistin

Unica Zürn schuf aus Zeichnungen, Anagrammen und Prosa ein kohärentes Œuvre. Lange nur unter dem Gesichtspunkt ihres tragischen Lebens rezipiert, wird sie nun endlich am Kunstmarkt wiederentdeckt

Von J. Emil Sennewald
06.08.2020

Dieses Jahr stand der Frühling im Schatten der Corona-Pandemie. „Dunkler Frühling“ ist auch der Titel, unter dem die 1916 in Berlin geborene Nora Berta Ruth Zürn 1969 einen Roman veröffentlichte, in dem es um die Geschichte eines Missbrauchs geht, der im Selbstmord endet. Ein Jahr später, am 19. Oktober 1970, folgte die Autorin ihrer Heldin in den Tod. Unica Zürn, die Autorin, die Zeichnerin, die paranoide Schizophrene, die von 1961 bis 1963 in der Psychiatrie Hôpital Sainte-Anne in Paris untergebracht war, nahm sich mit einem Sprung aus dem zehnten Stock des Pariser Wohnhauses ihres – zu dieser Zeit nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmten – Geliebten Hans Bellmer das Leben. Und folgende Zeilen aus „Dunkler Frühling“ lesen sich seither wie eine Ansage: „‚Vorbei‘, sagt sie leise, ehe sie mit ihren Füßen das Fensterbrett verlässt. Sie fällt auf den Kopf und bricht sich den Hals. Ihr kleiner Körper liegt seltsam verzerrt im Gras.“ 

Unica Zürn
Drache und Fisch sind zwei Hauptfiguren in Unica Zürns Werk. Die in Tinte auf Papier ausgeführte Arbeit (50 x 67 cm) entstand am 9. November 1961 im Hôpital Sainte-Anne, Paris. © Dominique Baliko

Einheit von Leben und Werk?

Zunächst wurde die Künstlerin vor allem unter dem Aspekt ihrer Krankheit rezipiert, ihre Arbeit bisweilen als „Art brut“ klassifiziert. Unica Zürn: Das war die unglückliche Geliebte Bellmers, aber keine wirklich eigenständige Autorin – trotz ihrer Teilnahme an der Documenta II in Kassel 1959, wo sie mit ihren Zeichnungen ausgestellt wurde. In den augenreichen, feingespinstigen Figuren Zürns kann man der wirklichkeitsformenden Kraft der Träume ebenso begegnen wie der bewusst machenden Stärke der Albträume. Vor allem aber führen ihre Züge in all jene Zwischenräume bildlich-metaphorischen Wahrnehmens, die sich einfachen Festlegungen entziehen. 1953 hatte sie Bellmer kennengelernt, war ihm nach Paris gefolgt, hatte mit dem Dichten von Anagrammen begonnen.

In dieser literarischen Technik, bei der nur die Buchstaben eines initialen Satzes verwendet werden dürfen, um weitere Verszeilen zu bilden, wurde Zürn zu einer Meisterin. Doch dessen war sie sich nie sicher, sich selbst sah sie kaum als die Künstlerin, die sie war: Nur vier Solo-Ausstellungen hatte sie in den Pariser Galerien „Le Soleil“ und „Le Point cardinal“ zwischen 1956 und 1965. Die Galerie Cordier nahm sie an der Seite Bellmers in die große Gruppenausstellung zum internationalen Surrealismus auf, die 1959/60 in Paris gezeigt wurde.

Die Dichterin Unica Zürn

Unica Zürn: Das ist auch eine Figur, die sich im Schreiben und Zeichnen erfindet, um sich gleichsam mit jedem Zug, jedem Strich ihres Bleistiftes als Autorin, als werkmächtige Person wieder auszulöschen. Die Schlusszeilen aus „Der Tod ist die Sehnsucht meines Lebens“ lauten: „Stoss mich Hund bitte in des Endes Leere. / Dort ist es, den ich Blinde sehen muesste.“ 123 solcher Anagramm-Gedichte verfasste Zürn in den sieben Jahren ihres aktiven Schaffens neben der Prosa. Zu Lebzeiten kaum beachtet, fanden diese erst nach ihrem Tod größere Aufmerksamkeit. Zunächst in literarischen Kreisen und Künstlerzirkeln, später auch durch die feministische Rezeption ihres 1977 posthum veröffentlichten Romans „Der Mann im Jasmin“. In den Neunzigern wurden ihre Gedichte mehrfach vertont. Mittlerweile ist auch ihr zeichnerisches Werk, lange nur eine Spezialität für Kenner, sehr gefragt.

Unica Zürn
Unica Zürn malte die Gouache (67 x 50 cm) am 27. September 1962 im Hôpital Sainte-Anne, Paris. © Dominique Baliko

Große Überblicksausstellung

Am 13. April 1994 wurde „Zebaoth“, eine etwa DIN-A4-große, aquarellierte Bleistiftzeichnung aus dem Jahr 1954, bei Loudmer in Paris von 4000 auf 8000 Francs gesteigert. Der „Zebaoth“ ist eine Figur aus Unica Zürns Bild-Universums, das sie konsequent über die Jahre entwickelt hat. In der Überblicksausstellung, die bis Ende Juli 2020 im Musée d’Art et d’Histoire de l’Hôpital Sainte-Anne (MAHHSA) gezeigt wurde, war „Der Herr Zebaoth reitet Sonntag vormittag auf der Babylonischen Hure“ von 1956 zu sehen – ein Pas de deux zwischen einem Drachen und einer Art grimmig-bärtigem Fisch. In der von einem hervorragend dokumentierten Katalog begleiteten Ausstellung in den Kellerräumen das Baukomplexes zeigten fünf während ihres Klinikaufenthalts entstandene Werke sowie zahlreiche Leihgaben und Dokumente eine außergewöhnliche, mit äußerster Feinheit arbeitende Künstlerin. Das 2016 offiziell eingerichtete MAHHSA bereitet gerade seinen Umzug in große, eigens eingerichtete Ausstellungsräume in der ehemaligen Krankenhauskapelle vor und stellt die rund 540 Werke umfassende Sammlung der Psychiatrie auch online bereit

Unica Zürn
Die Arbeit in Tusche und Aquarell von 1965 (50 x 65 cm, Privatsammlung) zeigt einen Drachen, eine Hauptfigur in Unica Zürns Werk. © Dominique Baliko

Erfolge der Zeichnungen am Auktionsmarkt

Ein „Drachentier“ Unica Zürns, das 1963 aus ihrer Feder floss, wurde am 27. März 2009 bei Jeschke van Vliet in Berlin für 2000 Euro – 400 Euro unterhalb der Taxe – zugeschlagen. Ein insektenähnliches Rüsseltier, das sie 1954 tuschte, stieg am 29. März 2009 bei „Millon – Cornette de Saint Cyr“ im Drouot (noch auf etwa 1960 datiert) auf 3400 Euro – fast das Dreifache der Schätzung. Beide Arbeiten waren in der MAHHSA-Schau zu sehen. Bereits in dieser Zeit zeichnete sich vage ein Trend ab, der heute zu einem wahren Run auf Zürns Werke geworden ist: Am 29. Mai 2017 etwa kletterte einer ihrer 1966 getuschten, augenreichen Janusköpfe bei Germann in Zürich von 2000 auf 12.000 Franken. Ein Rekord im Bereich ihrer Zeichnungen, der im Folgejahr auch von Cornette de Saint Cyr in Paris mit der weiß gehöhten Tusche „Composition“ aus dem Jahr 1954 erreicht wurde, die von 3000 auf 13.000 Euro stieg.

Die positive Preisentwicklung am Secondary Market entspricht der singulären Qualität und Rarität ihrer Werke. Mittelfristig wird es hoffentlich auch dazu kommen, dass diese außergewöhnliche Frau auf breiter Ebene als Künstlerin rehabilitiert und nicht mehr bloß als jenes vom Bruder vergewaltigte, von Männern geschädigte, der Unschuld beraubte Opfer wahrgenommen wird, das unter dem abwesenden Vater litt, vom Maler Alexander Camaro an die Kunst, von Henri Michaux ans automatische Schreiben, von Hans Bellmer ans Anagramm herangeführt wurde. Selbst Oskar Pastiors anagrammatische Ehrung ihres Namens hatte sie nur als anbetungswürdig entrückte „Azur in Nuce“ gewürdigt. Zürn, in paranoider Schizophrenie an Unica verloren? Das geht in ihrer literarisch-zeichnerischen Welt nicht auf, die so meisterhaft Traum und Wirklichkeit verwebt.

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Kunst und Auktionen 12/2020

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