Zwischen drei und acht Stellen ist alles möglich: Der Kunstmarkt für Zeichnungen Alter Meister ist eine Spielwiese für Spekulanten
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11.08.2020
„Stets findet Überraschung statt / Da, wo man’s nicht erwartet hat.“ Beim Kölner Auktionshaus Lempertz hat sich Wilhelm Buschs in schöne Jamben gegossene Binse am 30. Mai wieder einmal an einer Losnummer bestätigt – und das im Grunde gleich mehrfach: Erst kletterte die Kreidezeichnung „Skelett, nach rechts schreitend“, die das Haus auf Basis älterer Annahmen vorsichtig Agnolo Bronzino (1505–1573) zugeschrieben hatte, von mageren 3000 auf fette 420.000 Euro. Und dann hieß es post festum auch noch: Das ganze Spektakel sei gar nicht – wie Otto Normalbieter zunächst annehmen musste – für ein rares Blatt des Meisters selbst veranstaltet worden, dessen Papierarbeiten am Markt immerhin schon sechsstellig bewertet wurden („Joseph und Jacob in Ägypten“, Sotheby’s, London, 3. September 1996, Zuschlag 265.000 Pfund). Nein: Internationale Spezialisten hätten vielmehr Bronzinos Schüler Alessandro Allori (1535–1607) als Autor des Werks identifiziert, der preislich aber eigentlich eine ganze Nummer kleiner gehandelt wird (Topzuschlag bis dato: „Die Heilige Familie“, Sotheby’s, New York, 9. Januar 1996, Zuschlag 50.000 Dollar). Und so gab es am Ende dieses fulminanten Bietgefechts wohl kaum noch einen, der nicht an irgendeiner Stelle staunte …
Freilich: Die Addiktion ist in sich schlüssig. Im „Gabinetto dei Disegni“ der Uffizien in Florenz befindet sich gleich eine ganze Reihe ähnlich posierender Gerippe, die früher einmal Jacopo da Pontormo (1494–1557) zugeschrieben waren, mittlerweile aber als „Alloris“ gelten (Inv.-Nr. 6700 F, 6709 F, 6711 F, 10321 F). Denn diese „lebenden Toten“ lassen sich nur allzu gut mit dem Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen „Libro de’ ragionamenti delle regole del disegno“ des Künstlers in Verbindung bringen – einem systematisch strukturierten Zeichenlehrbuch für interessierte Laien, in dem Allori das aus seiner Sicht essenzielle Studium „düsterer und unangenehmer Skelette“ („maninconiche e spiacevoli l’ossature“) höchst eloquent seinem Zielpublikum – Edelleuten („nobilissimi gentiluomini“) – nahelegte.
Und so scheint festzustehen: Der französische Händler, der sich gegen rund 15 Kombattanten durchsetzte, hat nicht nur ein ungemein attraktives Blatt von immerwährender Symbolkraft in seinen Besitz gebracht, sondern auch – und mit Blick auf die Marktmechanismen vielleicht sogar vor allem! – eine konkrete Künstlerhandschrift. Aber ob dieser Mehrwert – primär erzeugt durch das Kopfkino rund um Allori und den Florentiner Manierismus, das nun bei potenziellen Interessenten angeworfen werden kann – auch ein angemessenes Return-on-Investment garantiert?
Zum Vergleich: Jean-Honoré Fragonards (1732–1806) „Die Erziehung des Hundes“, ein im „Fin du Rococo“ mit schwarzer Kreide und Bister hingehauchter „Dessin peint“ von nobler Eleganz, brachte Mitte November bei Artcurial in Paris „nur“ 140.000 Euro. Anthonis van Dycks (1599–1641) „Heilige Familie mit dem Johannesknaben und einem Adoranten“, ein für die Frühzeit des Künstlers typisches Scribble – in den damaligen Niederlanden hätte man „Crabbelinge“ dazu gesagt –, erzielte Anfang Dezember bei Christie’s in London „nur“ 170.000 Pfund. Und selbst Raffael (1483–1520) kam vor rund anderthalb Jahren mit „Stehender Soldat in Rüstung“ – einer feinen Federskizze aus der zweiten Florentiner Phase – bei Sotheby’s in New York über 650.000 Dollar nicht hinaus. Aber natürlich war das Blatt nicht annähernd so pulstreibend wie sein in schwarzer Kreide ausgeführtes Spätwerk „Kopf eines jungen Apostels“, das sich der US-amerikanische Finanzunternehmer Leon Black am 5. Dezember 2012 für 26,5 Millionen Pfund in der Londoner Zentrale sicherte.
Der Chairman und CEO von „Apollo Global Management“ soll bei 10 Millionen Dollar auch Andrea Mantegnas (1431–1506) „Triumph von Alexandria“ übernommen haben, den Sotheby’s vor sechs Monaten in New York offerierte. Das beeindruckend detaillierte Präsentationsstück mit brauner Tinte – von Mantegna geschaffen in Vorbereitung riesiger Gemälde zu Caesars militärischen Erfolgen für den Palazzo Ducale, Mantua – ist in vielerlei Hinsicht das Opus eximium seiner gut 20 erhaltenen Papierarbeiten.
Schon 1885, als das Blatt bei Sotheby, Wilkinson & Hodge in London aus der „Collection of Drawings“ des Dresdener Miniaturmalers August Grahl (1791–1868) zum Aufruf kam, war es Mantegna zugeordnet worden. Das Leipziger Auktionshaus C. G. Boerner sah 1942 in ihm dann allerdings nur noch eine „Werkstattarbeit“. Und Weidler in Nürnberg versteigerte das Rarissimum im Juni 2016 sogar ohne Limit als „Zeichnung nach Andrea Mantegna, wohl 16. Jh.“ Ein norddeutscher Händler erahnte den Rang, erhielt für ein paar Hundert Euro den Zuschlag – der Rest ist bekannt…
Eine geradezu märchenhafte Story, die das Narrativ des Kunstmarkts vom „Dachbodenfund“ grandios fortschreibt. Und wer ein gutes Auge besitzt, kann tatsächlich in schöner Regelmäßigkeit besondere Qualitäten im niedrigen Taxbereich aufstöbern – das macht den Reiz des Sektors aus.
Für Auktionserfolge braucht es dann freilich doch manchmal längeren Atem – wenn auch selten im Allori-Ausmaß. So kletterte am 19. Juni bei Koller in Zürich ein „Lockenkopf“ aus dem „Umkreis Leonardos“ (1452–1519) – ganz nach Art des Meisters mit Rötel auf rot grundiertes Bütten gewischt – von 3000 auf 15.000 Franken. Ein „bärtiger Mann mit Hut“ aus dem „Umkreis Rembrandts“ – ganz nach Art des Meisters mit brauner Feder zu Papier gekratzt – stieg von 1000 auf 22.000 Franken. Am 6. November wurde im Wiener Dorotheum eine „Drachenstudie“ Jusepe de Riberas (1591–1652) – seltsamerweise aber ohne konkreteren Bezug zu seinem malerischen Œuvre – von 6000 auf 46.000 Euro gehoben. Und am 3. April verbesserte sich dort ein Blatt mit „Drei Porträtstudien eines Grimassen schneidenden Mannes“, Jacob Jordaens (1593–1678) zugeschrieben, von 4000 auf 13.000 Euro – der „alte Narr“ taucht auf vielen Gemälden des Künstlers auf.
Bei Karl & Faber in München hingegen benötigte ein Berliner Privatsammler am 8. November nur 5500 Euro, um den Zuschlag für eine reizvolle Federzeichnung des 16. Jahrhunderts nach Michelangelos „Johannes Baptista“ in der Sixtina zu erhalten. Möglicherweise geschaffen von Lambert Lombard (1505/05–1566), der im Anschluss an seinen Rom-Aufenthalt 1537 – wohl nach dem Vorbild Baccio Bandinellis im Vatikan – eine Kunstakademie in Lüttich gründete.
Für wenig Geld waren auch zwei interessante Staffage-Landschaften des Cinquecento zu haben, die am 5. Juni bei Bassenge in Berlin zum Aufruf kamen. Gerade mal 1300 Euro netto benötigte man für eine namenlose „Hirtenszene“, die auf ein vermeintliches Urbild mit brauner Feder in der Wiener Albertina zurückgeht (Inv.-Nr. 1477) – wohl von der Hand Tizians (1488/90–1576). Weitere anonyme Zeichnungen dieser einflussreichen, 1682 auch von Valentin Le Febre radierten Komposition befinden sich im Frankfurter Städel und im Pariser Louvre – Blätter, die früher mit Domenico Campagnola (um 1500–1564) in Verbindung gebracht wurden, der Tizian in vielerlei Hinsicht stilistisch beerbte und manchmal auch künstlerisch erreichte. Wer? Wo? Wann? Das Karussell der Namen, Orte, Zeiten kann sich drehen …
Gänzlich unspektakulär verließ auch eine „Weite Flusslandschaft mit Pilgern“ in brauner Feder das Haus, die 2500 Euro plus Aufgeld kostete. Im 18. Jahrhundert, als sich die Arbeit in der Kollektion des Amateurzeichners John Skippe (1742–1811) befand, galt Tizian noch als ihr Autor. Das vielgestaltige, geschickt inszenierte Panorama auf Natur- und Kulturszenerien folgt aber vielmehr einem bewährten Schema Campagnolas, dem das Blatt in der Auktion denn auch mit einigem Recht zugeschrieben war. Die Frage ist nur: Zeigt der etwas mechanisch anmutende Duktus, dem man hie und da begegnet, einen heruntergespulten Herstellungsprozess im Alltag des Routiniers, der bald schon eine große Nachfrage zu bedienen hatte? Oder deutet die partielle Seelenlosigkeit des Lineaments – wie Tobias Nickel 2017 in seiner Dissertation vermutete – auf eine Arbeit aus dem Umkreis Campagnolas hin? Kaum zu entscheiden.
So sehen wir betroffen, den Vorhang zu und viele Fragen offen. Reichlich Raum also für Spekulationen im Altmeistertheater – und Überraschungen à la Wilhelm Busch …