Bemerkenswerte Schätzung: Christie’s taxiert Shakespeares „First Folio“, die erste Gesamtausgabe seiner Werke, für die Auktion der Classic Week in New York auf vier Millionen Dollar
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12.10.2020
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 16
Eine Taxe von vier Millionen Dollar ist zwar einer Meldung, aber eigentlich nicht der Rede wert – jedenfalls wenn man auf die Erwartungen und Zuschläge schaut, die bei den Auktionen moderner und zeitgenössischer Kunst so selten nicht sind. Aber da es sich um ein Buch handelt – zumal um eines, von dem es mindestens noch 235 von ursprünglich wahrscheinlich 750 Exemplaren gibt (wiewohl nicht alle in idealem Zustand) –, ist die Schätzung schon bemerkenswert. Am 14. Oktober, wenn Christie’s in New York ein „First Folio“ – bislang im Besitz des Mills College in Oakland – aufruft, wird sich herausstellen, wie realistisch diese Bewertung war.
„First Folio“ mag als Stichwort für jemanden, der der Literatur und dem Theater fern steht, rätselhaft klingen – wenn nicht gar wie ein Allgemeinplatz. Aber wer ein wenig mit dem elisabethanischen England vertraut ist, wer den gedruckten Raritäten des 17. Jahrhunderts nachjagt, wer Shakespeariana sammelt, weiß zu schätzen, was sich hinter diesen beiden Wörtern verbirgt: nämlich die erste Gesamtausgabe von Mr William Shakespeares Comedies, Histories, & Tragedies.
John Herninge (oder Heminges) und Henry Condell, die beide mit der Theatertruppe Shakespeares verbunden waren, haben sie 1623 – sieben Jahre nach dem Tod des Dramatikers – herausgegeben. „To the Great Variety of Readers“, wie es in ihrer Vorrede heißt. Und um den „diuerse stolne, and surreptitious copies, maimed, and deformed by the frauds and stealthes of iniurious impostors“ mit zuverlässigen Texten entgegenzuwirken. Zwar lagen damals bereits 18 Stücke einzeln als „Quarto“ vor, also in einem kleinen handlichen Format. Jedoch sind weitere 18 nur dank des „First Folio“ auf die Nachwelt gekommen. Denn ob Drama oder Lustspiel: Die Texte galten als Gebrauchsware für die Theatertruppen. Und alle achteten darauf, dass die erfolgreichen Spiele nicht den Konkurrenten bekannt oder gar gedruckt wurden. Deshalb sind von den etwa 3000 Bühnenstücken aus dem Jahrhundert vor 1642, als die Theater durch die Puritaner geschlossen wurden, lediglich 230 erhalten. Darunter immerhin 37 von Shakespeare. Das sind die 36 Stücke, die die 907 Seiten des „First Folio“ füllen, und Pericles, das (neben sechs anderen, Shakespeare fälschlich zugeordneten Dramen) ins „Third Folio“ aufgenommen wurde.
Allerdings war Pericles bereits 1609 als „Quarto“ gedruckt worden. Es gehörte zu den 18 Stücken in insgesamt 55 unterschiedlichen Ausgaben, die zwischen 1594 und 1622 erschienen. Zuerst kam Titus Andronicus heraus, dann Richard III und Romeo und Julia – meist auf Grundlage von Zuschauermitschriften oder von Souffleurbeziehungsweise Rollenbüchern, die die Drucker ankauften. Deshalb unterscheiden die Literaturwissenschaftler zwischen „bad“ und „good Quartos“. Ein „Quarto“ hatte mit etwa 18 mal 23 Zentimetern ungefähr das heutige Buchformat. Ein Folio mit einer Rückenhöhe zwischen 31 und 37 Zentimetern (das hing vom Beschneiden der gefalzten Druckbögen ab) entsprach gewissermaßen einem „Coffee Table Book“ – und es war Luxus: gedruckt auf das teure Papier mit der Krone als Wasserzeichen. Deshalb empörte sich der streitbare Presbyterianer William Prynne 1633 in seinem gegen die Theater gerichteten Pamphlet Histriomastix: „Schackspeare’s plaies are printed in the best crown paper, far better than most Bibles.“ Das spiegeln die Preise. Ein „Quarto“ kostete in der Regel 6 Penny, während für das „First Folio“ ungebunden 15 Shilling und gebunden 1 Pfund gefordert wurden (12 penny = 1 shilling; 20 Shilling = 1 pound). Für den Eintritt in das Globe Theatre, wo die Stücke gespielt wurden, waren 1 Shilling und 1 Penny zu zahlen (eine Hausmagd erhielt damals zwischen 5 und 7 Pfund im Jahr, also 100 bis 140 Shilling).
Die Ungewöhnlichkeit eines Folio-Drucks von Theaterstücken war vor Shakespeare 1616 nur Ben Jonson zugebilligt worden. Und weil er dann zum „First Folio“ einen Vorspruch beisteuerte, lästerte ein Zeitgenosse: „Pray tell me Ben, where doth the mystery lurke, / What others call a play you call a worke.“ Denn dem Buch wurde im 17. Jahrhundert keineswegs die Hochachtung zuteil, die es heute genießt. Trotzdem kam bereits 1632 das „Second Folio“ mit einer Auflage von etwa 1000 Exemplaren heraus. Davon sind noch 196 erhalten, allerdings lediglich 163 vollständig. Nach der Wiederherstellung der Monarchie erschien 1663 das „Third Folio“ (mit Pericles). Die Bodleian Library in Oxford verkaufte damals ihr „First Folio“, weil ihr das „Third“ als fortgeschriebene und verbesserte Ausgabe wichtiger erschien. Und 1685 folgte mit dem „Fourth Folio“ ein weiterer Nachdruck, der der dritten Ausgabe entsprach.
Zwei Jahre später wurde in London – wahrscheinlich zum ersten Mal – ein „First Folio“ versteigert. Mit 8 s / 6 d entsprach der Erlös gerade einmal dem halben Neupreis. Den erreichte 1699 dann annähernd ein gebundenes Exemplar mit 18 s. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts begannen die Preise jedoch zu steigen. Aus 3 / 3 / 0 (pound / shilling / penny) wurden in den Sechzigerjahren 5 / 8 / 0 im Durchschnitt. Und gegen Jahrhundertende war es mit 30/2/6 bereits das Zehnfache. Für 1807 sind 38 Pfund und für 1840 immerhin 250 Pfund belegt. Und so ging es weiter. 90 Pfund waren in den 1840er-Jahren der Durchschnittspreis, aus denen in den Neunzigern 410 Pfund wurden. 53 Exemplare wechselten in diesem halben Jahrhundert den Besitzer. Denn inzwischen hatte Amerika die Leidenschaft für diese Rarität gepackt. Dadurch stieg der Höchstpreis 1925 auf 75 000 Dollar und 1952 auf 330 000, ehe Christie’s im Oktober 2001 in New York mit 6,16 Millionen Dollar die bisherige Höchstmarke setzen konnte. Die versuchte Sotheby’s fünf Jahre später zu übertreffen. Aber über 5,6 Millionen Dollar, immerhin der zweithöchste Preis, kam man nicht hinaus.
Als Sidney Lee 1902 erstmals unternahm, alle erhaltenen Exemplare des „First Folio“ aufzulisten, zählte er 229 Ausgaben. Bei Anthony James West, der dieses Verzeichnis 1998 / 99 und 2003 wesentlich ergänzte und fortschrieb, waren es dann 232. Und inzwischen sind es 235. So wurde 2014 ein Exemplar aus dem Besitz des Marquess von Bute in Schottland entdeckt, ein anderes tauchte in einer Bibliothek in Saint-Omer bei Calais auf, wo es seit gut 200 Jahren unerkannt ruhte. Und im März 2016 kam ein bislang unbekannter Band aus der Sammlung von George Augustus Shuckburgh-Evelyn dazu, der dann bei Christie’s für 1,87 Millionen Pfund versteigert wurde.
147 „First Folio“ befinden sich in amerikanischen Bibliotheken. Allein 82 besitzt „The Folger Shakespeare Library“ in Washington, die Henry Clay Folger, der ehemalige Präsident der „Standard Oil of New York“, seit der Jahrhundertwende zusammengetragen hatte. Diese Ausgaben (von denen 28 mit Vorbesitzern und der Erwerbsgeschichte hier vorgestellt werden) sind die Grundlage des „Norton Facsimile“ von 1968, das als verbindliche Textquelle gilt, weil es die besten Seiten aus unterschiedlichen Bänden zusammenfasst. Denn beim „First Folio“ – lediglich 40 Bände gelten als vollständig – wurden während des Drucks immer wieder Korrekturen vorgenommen und einzelne Seiten ausgetauscht. Über den zweitgrößten Bestand verfügt mit zwölf Ausgaben die Mesei Universität in Tokio. In Deutschland gibt es nur drei Exemplare: in Stuttgart, Berlin und Köln. Die Kölner Universität hat 1960 alle vier Folio-Ausgaben für 425 000 D-Mark erworben. 1907 hatte das Antiquariat Quaritch „Second“, „Third“ und „Fourth“ noch für 210, 650 und 75 Pfund ersteigern können. Aus heutiger Sicht ein bescheidener Preis. Denn als Christie’s im Mai 2016 ebenfalls alle vier Folio (einzeln) aufrief, kamen als Summe 2,5 Millionen Pfund (= 3,26 Millionen Euro oder 6,5 Millionen D-Mark) zusammen (hier sind alle vier Folio und 25 Quarto von der University of Victoria vollständig digitalisiert worden).
Obwohl alle bislang bekannten „First Folio“ detailliert katalogisiert und genau beschrieben wurden, schützte sie das nicht vor Diebeshänden. 1940 verschwand das Exemplar des Williams College in Massachusetts. Allerdings konnte es noch im selben Jahr wieder in das gewohnte Regal gestellt werden. 1972 musste die John Rylands Library in Manchester den Verlust melden. Und 1998 meinte jemand, das Exemplar der Durham University in England zu Geld machen zu können. Zehn Jahre später legte er es der Folger Shakespeare Library vor, um sich bestätigen zu lassen, das es ein Original sei. Zwar fehlten nun Einband und Titelseite. Trotzdem kam sehr schnell heraus, woher es stammte. Und so kehrte es nach zwölf Jahren schließlich nach Durham zurück. Eine solche Identifikation hat durchaus ihren Sinn. Denn auf dem Markt tauchen immer wieder Fälschungen und Verfälschungen auf. So haben Buchhändler bereits im 17. / 18. Jahrhundert fehlende oder beschädigte Blätter ergänzt, indem sie zerlesene Exemplare fledderten, sodass sich dann Seiten aus dem „Second“ im „First Folio“ wiederfanden.
Als besonders geschickt erwies sich Ende des 19. Jahrhunderts John Harris. Daran ist indirekt das Britische Museum schuld. Es beauftrage ihn, fehlende oder unvollständige Seiten von Frühdrucken und dem „First Folio“ zu ergänzen. Das gelang ihm mit der Feder wie gedruckt, sodass sich der Unterschied nur bei einer sehr genauen Untersuchung feststellen lässt. Dasselbe gilt für Seiten aus dem Faksimile von Sidney Lee, das 1902 im rasterfreien Lichtdruckverfahren erschien. Aber Christie’s verspricht, dass es sich bei dem Exemplar, das im Oktober zu Markte getragen wird, um eine vollständige Ausgabe handelt – „incredibly rare“.
The Exceptional Sale
Christie’s, New York, 14. Oktober