Christie’s versteigert in der New Yorker Fotografie-Auktion eine Inkunabel der Kunst des 20. Jahrhunderts mit erstklassiger Provenienz: Man Rays „Le Violon d’Ingres“
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29.03.2021
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 5
Man Ray, gebürtiger Amerikaner und der einzige aus dem engeren Kreis der Pariser Surrealisten, der sich der Fotografie widmete – und zu einem der berühmtesten Fotografen des 20. Jahrhunderts avancierte – starb 1976 in Paris. Sein Nachlass fiel an seine Witwe Juliet, geborene Browner, die den „Man Ray Trust“ gründete, um dieses Erbe zu sichern. Juliet Man Ray starb 1991, die Verantwortung für den Nachlass ging an ihre Brüder – Man Rays Schwager – über, deren einer, Eric Browner, seit 1956 auf Long Island eine Autowerkstatt betrieb. Um die aus dem Erbe erwachsene Steuerschuld gegenüber dem französischen Staat zu begleichen, wurden rund 12.000 Glasnegative und 6000 hochwertige Abzüge im damaligen Wert von circa 2,5 Millionen Dollar dem Pariser Centre Pompidou überlassen.
Am 22. / 23. März 1995 versteigerte der „Man Ray Trust“ bei Sotheby’s London einen Teil des Nachlasses, 597 Objekte, mit einem Gesamtergebnis von knapp über 4 Millionen Pfund brutto. In der Folge wurde das verbliebene Inventar von Man Rays Pariser Atelier nach Long Island verbracht und dort eingelagert. Ein weiterer Verkauf fand im November 2014 bei Sotheby’s Paris statt: Vieles blieb liegen, manches erreichte ein Vielfaches des Schätzpreises, insgesamt wurden etwas über 2,7 Millionen Euro brutto erlöst.
Und nun, am 2. März dieses Jahres, fand eine weitere Auktion mit nachgelassenen Arbeiten von Man Ray statt, diesmal bei Christie’s Paris und ohne jegliche Beteiligung der Erben beziehungsweise des Trusts. Versteigert wurden 188 Positionen, alle aus dem Besitz von Lucien Treillard, dem letzten, 2004 verstorbenen Assistenten von Man Ray. Eingeliefert wurden die Werke von seiner Witwe Edmonde. Repräsentanten des „Man Ray Trust“ sagen, sie hätten erst im Laufe des Februar von der geplanten Auktion erfahren. Treillards Aktivitäten nach dem Tod Man Rays, als er ungehinderten Zugang zum Atelier hatte, sind seit Langem Gegenstand von Untersuchungen. Er stand in der Vergangenheit schon öfter unter dem Verdacht, sich Arbeiten von Man Ray angeeignet, posthume Abzüge erstellt und / oder teils mit nachgemachten Stempeln versehen zu haben. Treillard hatte zu Lebzeiten sogar zugegeben, von ihm angefertigte Abzüge fälschlicherweise Man Ray zugeschrieben zu haben.
In einem kurz vor der Auktion veröffentlichten Statement warnte demzufolge der „Man Ray Trust“: Bei 148 von 188 Losen seien Herkunft oder Authentizität unklar. Christie’s reagierte, indem auf die sorgfältige Recherche und auf das Expertenteam verwiesen wurde – darunter Emmanuelle de L’Ecotais, eine ausgewiesene Man-Ray-Kennerin. Trotz heftigen Austauschs von Für-und-wider-Argumenten auf beiden Seiten und der Forderung von Seiten der Erben nach einem Aufschub der Auktion fand die Veranstaltung wie geplant statt.
Heraus kam – trotz der Kontroverse –, was man einen „White-Glove-Sale“ nennt: Die Lose wurden ausnahmslos verkauft, mit 5,9 Millionen Euro erzielte man etwa das Dreifache der Taxsumme. Versteigert wurden allerdings nicht nur Fotografien, sondern künstlerische Arbeiten jeglicher Art; darüber hinaus Dokumente und Arbeiten von befreundeten Künstlern wie André Breton, Max Ernst und Marcel Duchamp. Dessen „Boîte-en-valise“ in einer Version von 1963 aus einer Auflage von 30, nicht nummerierten Exemplaren – eines der Highlights der Versteigerung – brachte allein 220.000 Euro. Mit 250.000 Euro teuerstes Los war Man Rays berühmte Fotoserie „Érotique voilée“ mit Meret Oppenheim an der Druckerpresse (neun Kontaktabzüge, ca. 9 x 12 cm, jeweils mit Skizzen zur Ausschnittvergrößerung, Taxe 50.000 Euro). Kaum eine Fotografie wurde von Man Ray so herausgegeben, wie sie entstanden war, alle wurden beschnitten, gedreht oder auch durch Retusche verändert.
Die Vertreter des Man Ray Trust wollen jedoch nicht aufgeben. Sie erinnern an die Geschichte des Elektrikers, der für Picasso eine Alarmanlage installiert hatte – und aus dessen Besitz 2010 dann plötzlich über 270 bisher unbekannte Werke des Künstlers auftauchten. Picasso, meinte er, habe sie ihm in Anerkennung seiner Dienste geschenkt. 2015 wurde der Elektriker von einem Gericht schuldig gesprochen, die – von Claude Picasso für echt befundenen – Werke gestohlen zu haben. 2019 allerdings hat der Cour de Cassation, das höchste Gericht Frankreichs, dieses Urteil wieder aufgehoben. Man wird sehen, wie es im Fall „Man Ray Trust vs. Treillard / Christie’s“ weitergeht.
Am 6. April hält Christie’s New York die Frühjahrsauktion mit Fotografie ab. Auch dort wird ein Highlight von Man Ray angeboten, jedoch mit erstklassiger Provenienz. Es handelt sich um ein Exemplar der Rückenansicht von Man Rays damaliger Freundin Kiki de Montparnasse, sitzend, mit einem orientalisch wirkenden Turban auf dem Kopf und zwei f-Schalllöchern – wie bei einer Geige – auf ihrem nackten Rücken. „Le Violon d’Ingres“ lautet der Titel dieser Inkunabel der Fotografie wie generell der Kunst des 20. Jahrhunderts. Die Bezugnahme auf Ingres’ „Baigneuse de Valpinçon“ und die Geige als des Malers Steckenpferd sind weithin bekannt. Die zahlreichen weiteren möglichen (und beabsichtigten) Assoziationen, damals keinesfalls jugendfrei und heute – im verkniffenen und verbiesterten Zeitalter von Identitätspolitik und Politischer Korrektheit – wieder tabuisiert, möge sich jeder selbst ausmalen.
1924, im Entstehungsjahr, wurde das Motiv erstmals in der Zeitschrift „Littérature“, dem protosurrealistischen Publikationsorgan, abgedruckt. Es gibt, wenn man so will, nur ein einziges Original aus der Zeit der Entstehung. Das stammt aus dem Besitz von André Breton und befindet sich in der Sammlung des Centre Pompidou; die f-Löcher sind aufgemalt, die Signatur und Datierung befindet sich an anderer Stelle, die Ortsangabe „Paris“ ist hinzugefügt. Die reine Bildgröße beträgt 28,2 mal 22,5 Zentimeter. Alle anderen Versionen sind fotografische Reproduktionen eines offenbar nicht mehr erhaltenen Vorbilds. Wie viele Exemplare gibt es davon? Akzeptiert sind zwei kleine (reine Bildgröße 14,6 mal 10,8 Zentimeter, plus einem 3 Millimeter breiten weißen Rand unten) aus den Fünfzigerjahren sowie eine Auflage von 8 plus 3 Künstlerexemplaren, angefertigt 1971 in der Größe von ungefähr 40 mal 30 Zentimetern.
Bei dem von Christie’s präsentierten Los handelt es sich um eines der beiden seltenen kleinen Exemplare (möglicherweise Kontaktabzüge, das andere Beispiel stammt aus dem Besitz von Naomi Savage – der Nichte Man Rays aus der Radnitzky-Familie –, und befindet sich heute im Worcester Art Museum). Auf der Rückseite ist der Print handschriftlich mit dem Titel, mit der ursprünglichen Datierung (1924) und einer Widmung an Man Rays Freund, Dada-Kollegen und Filmemacher Hans Richter versehen, neben einem Copyright-Vermerk mit Atelieradresse und – an der Seite – dem Namen des Nachbesitzers. Der war ebenfalls prominent. Von Richter ging das Bild nämlich an Hans Bolliger über, den Zürcher Dada- und Surrealismus-Spezialisten, der lange Zeit bei Kornfeld in Bern tätig war. 1995 schließlich kam der Abzug bereits ein erstes Mal zu Christie’s New York, wo er am 5. Oktober für lächerliche 42.000 Dollar zugeschlagen wurde. Zum Vergleich: In derselben Auktion wurde ein von Man Ray und Kiki signierter Vintage von „Noire et blanche“ (1926) für 185.000 Dollar weitergereicht (Bemerkung am Rande: 2017 lag das Ergebnis für das Motiv bei 2,6 Millionen Euro). Und am selben Tag nebenan – in der oben erwähnten Man-Ray-Auktion bei Sotheby’s – brachten die ebenfalls berühmten Glastränen von 1932 gar 240.000 Dollar. Die von Christie’s jetzt für das Bild veranschlagten 200.000 Dollar sollten heutzutage leicht zu erzielen sein. Noch-Besitzerin ist die Schauspielerin Sharon Stone. Das „Violon d’Ingres“ als surrealistische Inkunabel passte gut zu ihr – war sie doch einst, in der Rolle der Catherine Tramell in „Basic Instinct“, sowohl für den „Golden Globe“ als auch für die „Goldene Himbeere“ nominiert.
Christie’s New York,
Auktion 6. April 2021,
Besichtigung 1.-5. April 2021,